annemarie
Donnerstag, 24. April 2014
auf der straße IX / perpetuum mobile
durch die menschen die ich im meadow kennenlerne gelange ich in die verschiedensten bezirke, wohnungen und lokalitäten.
innerhalb kurzer zeit verbringe ich die eine nacht im wedding bei otto-mühl-anhängern (da habe ich mich rasant fortgemacht), einige andere in einer baghwankommune, aus der ich mit rosa angefärbter wäsche wieder rauspaziere, eine nacht sitze ich in der schlange und höre das erste mal ian dury und verlasse sofort die wohnung, so sehr regen mich die langen haare des inhabers auf. er kommt frisch aus london und hat den koffer voller platten, aber nach dem dury muß ich gehen.
irgendetwas in mir ändert sich, ich bin angespannt und aufgeregt. vorfreudig.
ich drohe zu platzen.
ich suche.
die stadt ist grau und bleibt so gleichgültig wie stets, aber hinter ihren wänden wird es bunt, schräg und schnell.
ich ziehe für eine kurze zeit nach moabit.
ein halbes jahr lerne ich im letteverein werbegraphik; was im nachhinein betrachtet die fortsetzung meiner künstlerischen ausbildung auf scharfenberg war. dort lernte ich einige jahre alles grundsätzliche an techniken, von lithographie, holzschnitt, radierung, kaltnadelradierung, farbenlehre, öl-kreidenmalerei etc., auf dem letteverein gab es das, was mir noch fehlte.
ich implodiere vor kreativität, bin im farbenrausch und das zeigt sich auch in meinem äusseren. nichts geht mehr ohne musik, ich hab den punk im ohr, im herz, im bauch.
zu beginn sind wir alle ziemlich offen und tolerant; eine meine erinnerungen legt den beginn meiner freundschaft mit jenny in den moment, als sie mir unabsichtlich beim rock´n roll tanzen die nase bricht. wir tanzen im shizzo und ich springe zwischen diesem und der hall die nächte hin und her.
einen abend nimmt the angel mich mit ins andere ufer (daß er das war, ist mir eben erst beim schreiben wieder eingefallen), dort fühle ich mich besonders wohl und nach einer portion spaghetti im petit europe trinke ich dort regelmässig einen café oder, wenn´s geld reicht, einen gintonic.
inzwischen gibt das mitropa und ich lerne dort alfred und dagmar kennen. die goltzstraße wird später meine heimat, aber vorerst eile ich nur vom alten dschungel zum mitropa, da mir diese straße wie ein ruiniertes gebiß vorkommt und ich habe angst, daß alles im nächsten moment zerfallen könnte. es gibt da eine drogerie, die verkauft selbstgemachte leicht psychodelische puppen, ich spare lange auf eine, aber sonst gab es dort nur grau.
ich verliere meine wohnung, ziehe für eine kurze zeit zu betti und mark in die lausitzer straße, ziehe wieder weg und trampe allein durch westeuropa die punx in allen ländern besuchen, heirate pro forma und mache meine erste flugreise.
da wir in einem schaumteppich landen, bleibt es meine letzte. wieder in deutschland wohne ich eigentlich bei dagmar in der großgörschenstraße.
eigentlich.
sie ist nicht aufzutreiben und ziehe mit meinen rucksack etwas verzweifelt über die hauptstraße.
im anderen ufer, es ist spät in der nacht, spreche ich mir sympathische jungs an, ob sie mir? obdach geben würden?
sie geben und wohnen gleich um die ecke. so lerne ich wolfgang und nikolaus und dann in ihrer küche die musik der tödlichen doris kennen. ich glaube mich zu erinnern, dass ich der mädchenkammer über der küchentüre nächtige....sicher bin ich nicht mehr.
ich trage immer eine kette aus bunten plastikperlen und genau so reihen sich die orts-und wohnungswechsel aneinander.
die kette ist zerissen und ich kann nur noch einzelne wiederfinden.
dass erwin mich eines tages in rasender eifersucht messerschwingend aus dem mitropa jagt, ist so eine;
dass ich auf einer party in der hauptsraße 155hh lande und schnell wieder abhaue, weil mir die herren i.pop und d.bowie zu bekokst und vulgär sind (der ganze rest an personen auch);
dass ich, dank jenny, die jungs von blurt kennenlerne und, soweit sie in berlin sind, mit ihnen herrlich abhänge;
dass ich im dschungel nur tanze, wenn paul sein rotordrehertanzen startet, weil die tanzfläche dadurch sofort frei wird;
dass ich in einer wohnung lebe, die keine toilette, heizung oder fliessend wasser hat;
dass nach exzessiven konzertbesuchen, mir alle einlasskontrolleure bekannt sind und ich ihnen;
dass menschen in der öffentlichkeit vor mir ausspucken, mir die vergasung empfehlen, die herthafrösche uns zu klump hauen;
dass ich das stundenlang beim tanzen vergessen kann und
dass das leben voll und intensiv und schön ist;
das und das und das -
ich glaube die kette war mehrreihig.

in berlin

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Danke, dass Sie einige der Perlen für uns wieder aufgefädelt haben.

In der Großgörschenstraße wohnte der ältere meiner beiden schönen Cousins einst auch. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit David Bowie, ist aber nicht vulgär.

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es macht mir auch freude - danke!
ich frage mich zur zeit, ob die vielen erlebnisse, stationen, begegnungen vielleicht geschrieben werden möchten, um das vergessen zu sabotieren.
das vergessen von orten (z.b. west-berlin) und von einigen menschen.

zu mr. bowie: mich ärgert, daß durch die bloße anwesenheit eines - zugegebenermaßen prägenden - künstlers eine ganze stadt aufgewertet werden soll.
er hat mal hier gewohnt. na und?
ich auch.
mein subjektiver und kurzer eindruck von ihm gilt nur für den längst vergangenen augenblick; er ist sicher nicht grundsätzlich vulgär; und gutaussehend fand ich ihn doch auch.
ihrem cousin hätte ich gut begegnen können.
wer weiß....

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Ich hoffe, Sie erzählen noch mehr. Die beiläufig erwähnte pro forma-Hochzeit und die unsanfte Landung im Schaum macht mich doch sehr neugierig.

David Bowie fände das sicherlich auch sehr merkwürdig, dass seine Anwesenheit gleich die ganze Stadt aufwerten soll. Was jenen Augenblick betrifft - war er damals noch drogenabhängig?

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beide begebenheiten gehören zusammen.
ich werde mal versuchen, das an die oberfläche zu bringen.

ja, das war er.
ich traf ihn ja des öfteren im drogenkaufhaus.
und, wer war das eigentlich nicht - damals in dieser szene?
(außer meiner wenigkeit)
in den 80er jahren, mit dem einzug des "speed", habe ich allerdings schlimmeres beobachtet.

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Es erklärt vielleicht sein Benehmen in jenem Augenblick.

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das stimmt.

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Ganz toll geschrieben!! Ihr Text, der mich an meine Studentenjahre erinnert, als ich ab der Mitte der 70er jedes Jahr für eine Woche nach Berlin gefahren bin, um "einen drauf zu machen". Die waren nicht ganz so wild, wie Ihre Jahre, und die Herren P. und B. habe ich nie getroffen, obwohl ich oft im Dschungel und im Mitropa gewesen war. Viel ist ja nicht in meiner Erinnerung verblieben, die Namen vieler Bars und Kneipen haben sich in nichts aufgelöst, wie wohl auch die Etablissements selbst. Durch einige Strassen in Ihrer Rückschau bin auch ich regelmässig gezogen, jedenfalls sind sie irgendwo noch präsent. Sonst ist vieles dunkel, so wie die Nächte, die kaum vor sieben in der Früh zu Ende waren. Ich erinnere mich noch gut an die U-Bahnfahrten in der Früh zurück in die Bude eines Kommilitonen (er wollte nur einige Semester bleiben und ist - glaube ich - immer noch dort), der in dieser Woche jeweils in meiner wohnte (Basel), an die dösenden Arbeiter mit ihren Taschen mit dem Mittagessen auf dem Schoss, deren Köpfe im Gleichklang mit dem Ruckeln des Zuges wackelten; welchen man abends, wenn man wieder auf Achse ging, in derselben Haltung wieder dasitzen sah, dösend und mit dem Kopf wackelnd. Das war gleichermassen komisch wie erschreckend.
Ich bin heute auch immer wieder für einige Tage in Berlin, habe Freunde dort, allerdings aus einer anderen Vergangenheit. Die Stadt ist nicht mehr dieselbe, seit sie wieder Hauptstadt und international geworden ist. Das grossstädtische Provinzielle ist dahin und doch reise ich gerne immer wieder dorthin, sehe Neues, auch weil ich heutzutage bei Tageslicht unterwegs bin. Die Vergangenheit ist für mich bestenfalls eine Anektote.
P.S. Schreiben Sie mehr, falls es mehr gibt, falls Sie mehr geben möchten. Ich glaube, man würde sich freuen.

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das erfreut mich ausserordentlich, herr pastiz,
daß sie auch ein bild beisteuern; erinnerungen die ein dichteres gewebe bilden, was diese zeit betrifft.
in mir begann sofort ein film zu laufen, als ich die beschreibung der u-bahnfahrten las.
heute wackelt da nichts mehr, heute kippen die bierflaschen zur seite.

die "stadt" westberlin existiert nicht mehr und ich versuche sie für mich (inzwischen auch für einige andere) zu beschreiben.
die idee dazu kam mir, als ich in hamm lebte und einen vortrag halten sollte; über meine heimatstadt.
vor jungen leuten, die mehr als 25 jahre jünger als ich waren.
ich konnte über die "neue" haupstadt nichts vernünftiges denken, das war/ist einfach nicht meine heimat. *
im vorfeld recherchierte ich dann, daß sie nicht mal wussten, warum es west - und ostdeutschland gab und so kam mir der gedanke über eine verschwundene stadt zu referieren.
von beginn an, also ab dem kriegsende.
ich hatte 25 minuten und würzte das alles mit persönlichen geschichten - es wurde wirklich ein erfolg, da alle bis zum schluß konzentriert zuhörten und mehr (!) wollten.

*inzwischen gewöhne ich mich ein....

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Er ergibt, liebe Frau annemarie, ein wunderbares Bild, Ihr Begriff der verschwundenen Stadt, und in der Tat, so sehe ich sie auch. Ich habe Ihre Geschichten gelesen, die Sie bei Marcus Kluge veröffentlicht haben (warum dort und nicht hier?), die wirken auf mich, wie eine Reise in eine Zeit, die nicht besser gewesen war als die jetzige, aber man weiss, sie ist vorbei, definitiv, ein Schwarzweissfoto auf gelblichem Kodakpapier mit Zackenrand. Im Übrigen geht es mir wie den jungen Leuten, die Ihrem Vortrag lauschten, obwohl ich Jahrgang 1953 bin.

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die texte bei marcus kluge sind die ersten, die ich jemals auf eine aufforderung hin geschrieben habe.
er bemerkte, daß wir synchronitäten in unseren lebensbeschreibungen haben; wie z.b. daß wir uns in den 70er jahren mehr in charlottenburg bewegten und hin zu 80ern in richtung schöneberg/steglitz.
so kam er auf die idee.
mein erster text gefiel so gut, daß wir eine kleine reihe daraus machten.
er veröffentlicht dort auch von anderen personen (z.b. gestern einen feinen text von dem journalisten h.p. daniels) gastbeiträge zu dem thema "berlinische leben".
ich fühle mich mehr als geehrt mitveröffentlichen zu dürfen.

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