annemarie |
Samstag, 7. Juni 2014
von der straße in die erste eigene wohnung:
ach annemarie, 17:55h
meine erste wohnung hatte eine ofenheizung und mein bruder zeigte mir, wie ich das anfeuern zu bewerkstellen hätte:
ein bißchen anmachholz, zeitungspapier und zwei, drei briketts die mit zeitung umwickelt sind obendrauf. und dann alle klappen fest zu. ich wunderte mich oft über meinen tiefen schlaf und meine nicht enden wollende müdigkeit. zum glück wohnte unter mir ein schwerstalkoholiker, der lautstark nach kontakt mit mir verlangte und ich vermute der ofen hatte durch undichtigkeit genug durchzug. mein einzimmer mit bettnische, bad und küche lag im ersten stock in der rostocker ecke wittstocker straße. angemietet hatten sie meine eltern, da der besitzer ein bekannter meiner omi war. ich besaß ein bett, einen tisch plus 4 stühle und ein kleines regal. mein bruder schenkte mir geschirr, ein kühlschrank war schon vorhanden. zu meiner freude gab es einen riesigen warmwassserspeicher im bad, da ich alle wäsche mit der hand wusch, froren mir nicht die finger ab. ein telefon, plattenspieler oder ein radio besaß ich nicht, das regal füllte sich aus dem halben koffer kleidung und meinen kinderbüchern. nachdem es beschwerden beim hausbesitzer gab, daß man mich nackt sehen könnte, nähte meine mutter mir lange nesselvorhänge. die klagen kamen vom haus gegenüber, die leute beobachteten mich ausgiebig. dadurch und wegen der sperenzchen des mannes unter mir, fühlte ich mich dort nicht wohl. es gab nur einen netten menschen im haus, den herrn horn neben mir. drei der eckhäuser der kreuzung waren bestückt mit kneipen und so wurde es, je später der abend, regelmässig laut auf der straße. die stammgäste begegneten sich beim versuch den weg nachhause zu finden und sie fanden sich gegenseitig alle herzlich unsympatisch. es gab eine gehobene arbeiterklasse, die mit schlips und ohne frau zum trinken ging, die mittlere ging ohne schlips aber mit frau und die proleten soffen ohne alles. ich paßte in keine der kategorien und wurde, je punkiger ich aussah, von allen gleichermaßen verachtet. neben herrn horn hatte ich aber doch eine zeitlang einen freund in der straße; den schornsteinfegermeister. als ich ihn das erste mal sah; besser sein dreiradauto sah; und beobachtete wie sich anstelle einer tür, die autodecke nach oben öffnete und ein schwarzes etwas herauskletterte, mußte ich laut lachen und er dann auch; schon kamen wir ins gespräch. er war ca. 10 jahre älter als ich, junggeselle und trug sein langes haar zum pferdeschwanz gebunden. er wollte mich immer zu sich einladen oder von mir eingeladen werden, ich aber ließ ja niemanden in mein refugium und verstand auch nicht, daß er annäherungsversuche unternahm. irgendwann gab er auf und das verstand ich natürlich auch nicht. einige häuser weiter wohnte ein kleiner kugelrunder franzose, der sich mit travestieshows durchschlug. auch ihn lernte ich auf dem gehweg kennen, zwei so bunte wesen wirken magnetisch aufeinander. meine annahme, daß er aufgrund seiner berufswahl auch schwul sein muß, erwies sich als falsch, irgendwann hing er einige nächte an meinem briefschlitz und jammerte so lange nach mir, bis die nachbar einschritten und ihn aus dem haus warfen. während dieser vorstellungen saß ich zitternd in meiner bettnische und betete, daß er nicht mitbekam, daß ich anwesend war. ich verstand das alles nicht. "das" waren die männer, nun hier geht es ja um die wohnung, also ergibt das eine andere geschichte. im vierten eckhaus befand sich ein kleiner lebensmittelladen, in dem ich mir einmal im monat lungenhascheé, ein halbes pfund kartoffeln und frische petersilie kaufte. einmal im monat ein warmes essen, das war herrlich. mit meinen 215.-dm hatte ich nicht nur die monatskarte für den 23er und die u-bahn zum letteverein hin zu begleichen; ich mußte davon auch die erforderlichen materialien für den unterricht bezahlen. daher fuhr ich aus des öfteren nach ost-berlin um dort so preiswert wie möglich einzukaufen. noch heute besitze ich zwei aquarellblöcke (langsam zerbröselnd und absolut vergilbt), spezielle lineale und zirkel und einen haufen pastellkreiden aus ddr-produktion. und ein plastikpuppengeschirr zum mischen der tuschen, das hält für die ewigkeit! vor meinem fenster bretterten autos über das kopfsteinpflaster, unter mir liefen entweder volksmusik oder hasstiraden gegen meine person - ich fühlte mich bedrängt, beobachtet und ständigem lärm ausgeliefert. daher ging ich so viel wie möglich nach draussen. in der woche gab es den täglichen schulbesuch, am wochenende besuchte ich neue bekanntschaften, die fotographen und modedesigner aus dem letteverein. der u-bahnhof turmstraße war gefühlte 100km weit entfernt, aber ich hatte um die ecke den s-bahnhof beusselstraße. mitte/ende der 70erjahre war der s-bahnverkehr stark ausgedünnt, die bahnsteige waren fast immer menschenleer und es gab am späten abend - entgegen der heutigen meinung - dort kein personal für die abfertigung. die beste s-bahnfahrt meines lebens erlebte ich in einer verschneiten winternacht 1979. ich hüpfte mit meinen pumps (ich besaß kein winterstiefel) fleissig gegen den frost am boden und wartete mutterseelenallein auf den zug. mir war es nicht geheuer, schnell noch eine für die fahrt drehen, irgendwie ablenken.... denn in den wintermonaten dieses jahres häuften sich die überfälle und vergewaltigungen in der s-bahn. in ihren zügen, nicht unbedingt auf dem bahnsteig. oft war man am abend mitten in der woche alleiniger fahrgast und leichte beute. der zug fuhr ein, rauschte an mir vorbei und ich sah keine weiteren menschen in ihm. ich öffnete eine der türen und wollte einsteigen, als mich eine lautsprecherdurchsage innehalten ließ. ich hatte zuerst nichts verstanden und fühlte mich nicht persönlich angesprochen. wieso auch? einen fuß im waggon einen draußen hörte ich dann, daß ich mich "jefällichst zum zugführer zu bejeben hätte, froillein" komische sache, komische stimme - was wollte der kerl von mir? der schob noch ein "aba dalli!" nach und ich konnte garnicht anders, als diesem befehl folge leisten. überraschung! im führerhaus saß eine stämmige frau, gesegnet mit einem bartwuchs, um den sie manch ein kerl beneidet hätte und ihre stimme führte zu verwirrung in sachen geschlechtszuordnung. sie forderte mich auf mich neben sie zu setzen. "ob ick nüscht davon jehört hätte, wat so des nächstens passiern könne, so alleene inne bahn?" und "et jinge ja janich, daß sie spacket ding alleene in meenen zug sitzen und ick hab denn dit theater, wa?" ick setzte mir. und sie, nachdem sie zuende schwadroniert hatte, erzählte und erzählte. fragte mich aus und als sie mich für dessen gut befand holte sie aus einer aktentasche eine große schachtel "mongscherie, wolln se?" und teilte. und erzählte. allein der blick aus dem fenster und das durchpflügen des schneefalls waren schon gute gründe zum verlängern meiner fahrt, aber dann noch mongscherie! ich liebe das zeug und ich versuchte so weit wie möglich mitzufahren, um so viel wie möglich davon zu naschen. das hat auch recht prima geklappt, auch wenn ich ganz woanders als geplant gelandet bin; ich bin heute der frau noch immer dankbar, daß sie mich schützen wollte und mir eine herrliche, leckere fahrt ermöglichte. mit dem abbruch der ausbildung endete auch meine zeit in der rostocker straße. meine eltern stellten die miet-und unterhaltszahlungen ein, ich versuchte vergeblich sozialhilfe zu beantragen. die vergeblichkeit kam mir nicht ungelegen, ich wollte da nicht unbedingt weiter wohnen und ging nun wieder dorthin, wo ich hingehörte: auf die straße. viele jahre später zog ich in meine gefühlt "erste" eigene wohnung, da ich sie mir selber besorgt hatte und gerne in ihr lebte. umgeben von nachbarn die unbeschreiblich offen und mehr als nett waren. ... comment
pastiz,
Dienstag, 8. Juli 2014, 14:00
Ich hätte beinahe einfach "toll geschrieben" unter Ihre Erzählung gesetzt, aber dies wäre der Geschichte, die Sie hier teilen, nicht gerecht geworden. Es ist ja IHRE Geschichte und keine erfundene. Sie verstehen es, diese offenbar nicht immer so rosige Vergangenheit mit einer Gelassenheit zu erzählen und ohne aufgescheuchte Dramatik (jedenfalls wirkt es so auf mich), dass man manchmal glauben könnte, Sie blickten zurück auf einen anderen Menschen, der Sie einmal waren.
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ach annemarie,
Mittwoch, 9. Juli 2014, 11:36
das haben sie genau und richtig erfasst; auf bestimmte abschnitte schaue ich als ein (heutiger) anderer mensch.
beim schreiben kitzelt mich zwar das jeweilige lebensgefühl, aber ich bin ja doch einige mal aus der kurve geschleudert worden und in einem neuen leben wieder zu mir gekommen.... vielen dank für das kompliment, herr pastiz. ... link ... comment |
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Letzte Aktualisierung: 2024.07.27, 13:34 status
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herzlichen dank.
in all...
herzlichen dank. in all dem streß wegen meines... by ach annemarie (2024.06.16, 09:48) danke sid.
ich brauche...
danke sid. ich brauche noch einige zeit.... by ach annemarie (2024.06.16, 09:43) |