annemarie |
Samstag, 9. August 2014
auf der straße 0 / die ersten jahre (1961-1969)
ach annemarie, 09:35h
1960, mit mir schwanger fuhr meine ma eine lange und anstrengende route aus botsuana/südafrika über den ozean nach berlin zurück. damals war das nur auf einem containerschiff möglich, ohne jeglichen komfort, und so bin ich ein ziemlich seefestes wesen geworden.
geboren wurde ich im noch freien berlin, in kreuzberg. 7 monate später wurde die mauer gebaut. dicht gedrängt lebte ich die ersten monate in einer 2-zimmerwohnung mit wohnküche in der neukölner innstraße; zusammen mit den eltern und 4 geschwistern von ma, meinem bruder und vater. ich schlief im wäschekorb neben dem warmen kohleofen; kam meine tante aus der nachtschicht, nahm sie mich mit auf ihren schlafplatz und hielt mich eine weile in ihren armen. sie war es auch die bemerkte, daß ich schwer erkrankt war, daher kam ich in die kinderklinik-baracken in der königin-elisabeth-str. in charlottenburg. ja, ich zog von beginn an durch die stadt, meiner meinung nach habe ich es in den über 50 lebensjahren zum mindestens 1x wohnen in jedem der west-berliner bezirke gebracht. nach der isolation und zwangsfütterung in der klinik; die ärzte dachten an etwas exotisches, das ich aus afrika mitgebracht haben könnte und reagierten panisch; kam ich nach hause und das bedeutete in eine eigene wohnung, im gardeschützenweg, berlin steglitz-lichterfelde. sir war in einem wiederaufbauhaus, auf einen alten keller gesetzt, an dessen wänden noch luftschutzhinweise gemalt waren und mit schwerfallenden eisentüren, die die hauskeller voneinander trennten. zum müll raustragen, meiner haushaltlichen aufgabe, mußte ich ihn durchqueren und lernte rasant schnell und gut pfeifen. ich habe heute noch träume die in ihm stattfinden. laufen lernen war für mich eine leichte kür, ich wollte raus und immer nur raus. anfangs nur in den verborgenen hof, der mit klopfstange neben den mülltonnen (ideal für einzelgummitwist) garagen und asphaltfläche zum einparken, aber auch mit birnbäumen, vogelbeeren, himbeersträuchern rund um eine große wiese ausgestattet war. einen buddelkasten mit eisernem raketengerüst gab es und daneben meinen lieblingsplatz, die alte birke dicht an einem fliederbusch, in dessem inneren ein baumstumpf saß. die birke war ideal zum hochklettern und ausguck absolvieren, der busch zum verbergen. niemand ahnte, daß dort jemand hockte und aus einzelnen fliederblüten den nektar saugte. das schönste war, es gab keine anderen kinder, nur 3 sehr viel ältere, die schon zur schule gingen. ich hatte alles für mich allein, den angrenzenden kindergarten beachtete ich nicht, das war ein anderes universum. so war ich sehr glücklich und mit den ansteigenden lebensjahren wagte ich mich immer weiter aus der deckung. als erstes entdeckte ich die ruine, direkt neben dem hof. sie war zwar eingezäunt und trotz des absolutem verbots dort hineinzugehen, quetsche ich mich durch den draht, bestaunte die jungen bäume, die sich inmitten halber wände breitmachen, an einer noch hohen außenwand rankte efeu und ich rätselte sehr lange, warum und wozu es dort leere fensterhöhlen gibt. bis ich erkennen konnte, daß das mal ein 3stöckiges, aber recht kleines haus gewesen war, von dem noch 1 ganze und eine halbe aussenwand stehen, innen aber nur noch das erdgeschoß mit kniehohen mauerresten existierte. in einer der wände war ein teil einer tür erkennbar und ich durchsuchte akribisch den schutt, bis ich einen großen schlüssel fand. den es heute noch gibt.... ich wurde nicht entdeckt, die strassen, das viertel, die stadt ist ruhig. in den ersten jahren nach dem mauerbau fuhren wenig autos, kaum lastwagen und die menschen waren angespannt, still. die automobile sind einzeln wahrnehmbar und wenn ein fuhrwerk naht, hört man schon lange, bevor man es sieht, das klappern der hufen. ich kann bald unterscheiden zwischen den kaltblütern der bierkutscher, den der bolle-milchwagen und den anderen pferden der trauergespanne und hochzeitskutschen. fasziniert bin ich am meisten von den bierkutschern, ihre pferde kommen mir riesig vor und sie haben neben den augen einen interessanten schwarzen sichtschutz, auf ihrem rücken liegen lederne decken, ihr schnauben ist feucht und laut. kein pferdeapfel bleibt lange auf dem kopfsteinpflaster, sofort ist jemand mit kleiner schippe und zeitungspapiertüte da und sammelt sie ein. ein guter dünger für den garten, lerne ich. die hochzeitskutschen wurde von schlanken, weißen pferden gezogen, denen eine schwarze decke umgelegt wurde, wenn sie vor das gestell für einen sargtransport gespannt wurden. ab und zu knatterte ein motorrad, die straßenbahn klingelte. ihr betrieb wurde ´65 eingestellt und es wurde noch ruhiger, doch zu sehen hatte ich noch genug. meist balancierte ich am rinnstein entlang, roch zigarrenrauch und wenn ich mich umdrehte hing daran ein mann mit hund. es gab so viele männer mit hund und alle hatten etwas besonderes. seit ich unserem hauswart ins gesicht fassen durfte um seine tiefen krater zu berühren, mir dabei erklärt wurde, daß er als flieger abgeschossen worden ist und die narben dabei enstanden, war ich am sammeln dieser zeichen des krieges. mir kam es so vor, als wären die strassen voll mit dem rauch von herrchen und hund, frauen verblaßten mir schnell denn sie rochen nicht und führten meist kleine pudel, möpse oder spitze. aber die männer, die hatten buschig schwere schäferhunde, solche mit noch hohen rücken und vor lauter fell fast unförmig; chow-chows mit blauer zunge, schwarze königspudel, airedaleterrier, riesenschnautzer, seidig glänzende langhaardackel - alles arten die man heute kaum noch sieht. dazu der stumpengeruch und zum sammeln die verletzungen aller art. ich erinnere mich an den mann mit den auf einer seite zerdrückten kopf, an etliche einarmige und die einbeinigen mit holzkrücken unter den achseln. augenklappen waren recht häufig und einer rollte beinlos auf einem gerät, das aussah wie ein abgesägter stuhl ohne lehne, dafür mit rädern. die besser betuchten hatten rollstühle, die sie mit schwingenden weit ausholenden armen antrieben. die folgen des krieges waren sehr sichtbar und blieben es länger als sonstwo, da durch den mauerbau ein stillstand in der stadt herrschte. bis 1967 gab es kaum bis gar keinen güterverkehr für west-berlin, bis das wieder lief mußte improvisiert werden und kleingärtner waren äusserst beliebt. ruinen blieben stehen, wiederaufbau oder neubauten konnten wenn, dann nur aus dem vorhandenen schutt errichtet werden. noch bis in die 90er jahre konnte man die maschinengewehreinschläge in den häuserfronten erkennen, z.b. in der gallwitzallee in lankwitz. die menschen waren durch kennedys besuch beruhigt, aber sie wußten nicht was wir heute wissen, sie hatten angst wie und ob es überhaupt weiterginge. extrem laut wurde es manchmal, wenn z.b. ein hoher besuch, eine wahl oder ein anderes öffentliches ereignis anstand, dann flogen die die russen mit ihren migs dicht über die dächer oder so schnell daß sie schallmauer durchbrachen. die alte mutter meiner hauswartsleute fing dann an zu jammern und zu klagen, manches mal sogar an zu schreien, sie hatte als flüchtling todesangst vor den russen. mich steckte die allgemeine angst an und wenn dann die luftschutzsirenen losheulten, man nur noch geduckte hastende rücken auf der straße sah, alle mit ernsten mienen, dann kann das anstecken. angst, meine muttermilch. nahrungsmittel waren knapp, angeboten wurde nur regionales und saisonales, es gab brot, milch,quark und käse, kohl und rüben, kartoffeln, äpfel, birnen und kirschen - alles andere war unerschwinglicher luxus. so um ´68 herum durften die laster wieder durch den transit rollen und ich erinnere mich an die szene, daß jemand aus unserem haus weinend einen dicken blumenstrauß vor sich hertrug, es konnten wieder schnittblumen gekauft werden. ma machte öfter aus geschenkten fallobstäpfeln apfelmus und noch bis ´67 bekam ich ich in der grundschule von dem amis gespendete milch. um die wenigen schokoflaschen dabei gab es regelmässig keilereien. der kontakt mit den soldaten war alltag, wir hatten unseren schwimmunterricht in der nahen kaserne und regelmässig rollten die panzer durch die straßen. pa fand arbeit auf dem flughafen tempelhof; anfangs, bevor sie paranoid wurden, durfte er mich manchmal mit hin nehmen und ich erinnere mich genau an den netten soldaten der mich hochhob, in den lastwagen stellte und ich konnte mir so frische weintrauben aus einem sack nehmen. meine ersten.... sie schenkten mir vanilleeis in rechteckkartons und immer wieder hoben die uniformierten mich an, schleuderten mich wie einen kreisel und freuten sich mit mir. blutjunge gis, damals kamen sie mir vor wie ein wald der laufen kann, so groß, manch einer wunderbar dunkel und alle so stark. glück bestand nur aus kurzen sequenzen, das lernte ich schnell. die jahre bis zu den ersten abkommen, die eine regelmässige versorgung des westteils der stadt ermöglichten, waren voll mit schreckmomenten, mit großen kundgebungen, auf denen alle herzen gleichartig zitterten, mit kerzenlicht in allen fenstern und auch der schmerz der trennung einzelner familien durch die mauer war spürbar. die situation in der wir lebten, die ständig neu definiert wurde und die sich von einem tag zum anderen brachial ändern konnte, schwang stets mit, war immer dabei, egal was man tat, egal wo und mit wem man saß, egal worüber man redete. sie war der schwankende boden auf dem jeder westberliner stand. zu beginn wurde noch nicht überall eine mauer gebaut, es gab gewisse orte die mit stacheldraht begrenzt und bewacht wurden. einer dieser orte war ein feld am stadtrand, in frohnau. dort wohnten die eltern von pa und mein bruder ich spielten in diesem, wir aßen die reifen weizenkörner und bewegten uns mehr und mehr richtung grenze. natürlich, wir waren beide kleine kinder, war uns das nicht bewußt, ja, wir sahen den draht erst als wir davor standen und im gleichem augenblick von den grenzern angerufen wurden. die waren nicht besonders agressiv, jagten uns aber einen gewaltigen schrecken ein. sie waren sichtbar bewaffnet und in uniform, das nun verstanden wir. es ist nichts weiter passiert, doch werde ich das nie vergessen, die soldaten hätten auch anders reagieren können. als wir zur familie zurückkehrten hat uns übrigends niemand so recht geglaubt. so lebte ich als kleines ding in einer für mich sepiabraun getönten umgebung, die straßen voll mit versehrten aus den 2 kriegen, durchtränkt mit einer stimmung die den tag lobt, an dem nichts weiter passiert und in angespannter erwartung ist ob des nächsten, mit dem rasseln mich schützender panzer, dem knallen der migs, in einer hand ´ne flasche amimilch in der anderen ´ne murmel. irgendwie kind, irgendwie nie richtig kind gewesen. ... comment
kelef,
Samstag, 9. August 2014, 15:15
ach, annemarie ...
... link
ach annemarie,
Sonntag, 10. August 2014, 12:34
ja, geseufzt habe ich auch, ab und zu und dann wieder breit gegrinst....
die lust am und die lust zu leben überwogen; ich hatte freude beim schreiben. ... link ... comment
pappnase,
Samstag, 9. August 2014, 16:03
das geht tief rein
es ist
irgendwie konnten wir auch im westlichsten westen zu dieser zeit mal kind und nie richtig kind sein, das war zu der zeit schwieriger, als wir alle glauben mögen... ... link
ach annemarie,
Sonntag, 10. August 2014, 10:54
genau das wollte ich, dafür habe ich geschrieben:
ein bild zu malen, ganzheitlich und mit allem was mich ausmacht; zeugnis abzulegen, daß ich zwar kein rund-um-sorglos-paket zu tragen hatte, doch immer glück gefunden habe. (auch verpflichtet mich mein wohl ziemlich gutes gedächtnis - wozu habe ich all diese erinnerungen?) das "eigentlich" dürfte weg... es ist eine gute zeit gewesen. was man jetzt darüber denkt, kam in meinem gefühl damals nicht vor, ich kannte nichts anderes und es war nun mal meine normalität. das hadern kam erst später. unsere generation, die zwar in frieden geboren wurde, hat dennoch die folgen der nazizeit, die wunden von kriegshandlungen und traumata der vielen arten von vertreibung zu spüren bekommen - nur nicht direkt, nicht offensichtlich. die elterngeneration, die kriegskinder haben sich nicht mit ihren verwundungen auseinandersetzen dürfen, in der noch jungen republik. wir wurden in den aufstieg hineingeboren, satt, gut gekleidet, alles ziemlich friedlich um uns herum, bildung für alle, etc., aber irgendetwas stimmte nicht. es sah gut aus, aber es wurde immer kälter... meine eltern z.b. durften niemals kinder sein, sie haben beide die kriegsjahre als kleine erwachsene funktionieren müssen, um zu überleben. meine ma war im alter von von 8, 9 und 10 jahren, als sie auf ihre geschwister aufpassen mußte, im bombenhagel; als sie nahrung auftreiben und gerecht verteilen mußte; als sie das "werk" von scharfschützen sehen mußte; als sie den tod, die vergewaltigungen und alles was im endkampf um berlin dazu gehörte durchstehen mußte. danach dann der hunger und die angst während der blockade....woher sollte sie denn wissen, was eine kindheit ausmacht? sie hat es selber nicht erfahren, genauso wie mein pa, der unter ganz anderen bedingungen lebte, aber mit den gleichen schrecken konfrontiert war. ich empfehle das buch "kriegsenkel" von sabine bode, etwas oberflächlich gehalten, aber es hat mich verblüfft, wie vielen es ähnlich wie mir erging - und vor allem! immer noch geht. ... link
arboretum,
Sonntag, 31. August 2014, 20:36
Zur Kindheit der Kinder von Kriegskindern gehört auch Angst und Beklemmung bei diesem Geräusch oder diesem. Nicht nur, weil es so laut war, auch wegen der Geschichten, die man aus der Familie kannte. Ich zucke sogar heute noch manchmal zusammen, wenn wieder einmal getestet wird.
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ach annemarie,
Montag, 1. September 2014, 12:48
oh, das konnte ich mir nur eine sekunde anhören - fürchterlich.
mir war nicht bekannt, daß es die sirenen in anderen städten noch gibt, da sie in berlin abgebaut wurden (nach der maueröffnung). ... link
arboretum,
Montag, 1. September 2014, 14:11
Ja, das war auch im Westen vielen Städten und Kommunen zu teuer, die zu übernehmen. Ich wusste lange nicht, dass es die Sirenen und Probealarm andernorts nicht mehr gibt.
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terra40,
Sonntag, 10. August 2014, 13:34
Erinnerungen
Sie haben recht: wozu hat man so viele Erinnerungen wenn sie schließlich unaufgeschrieben blieben. Und ich finde Ihre Art und Weise Erinnerungen zu beschreiben bewundernswert und faszinierend - auch wenn ich damals - in den sechziger Jahren - in einer völlig anderen Situation lebte.
Ich freue mich schon auf die nächsten Folgen. Gruß, T. ... link ... comment |
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herzlichen dank. in all dem streß wegen meines... by ach annemarie (2024.06.16, 09:48) danke sid.
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danke sid. ich brauche noch einige zeit.... by ach annemarie (2024.06.16, 09:43) |