annemarie
Sonntag, 24. August 2014
auf der straße 0 / loslösung (1969-1974)
wir zogen um.

mein bruder und ich sollten ein eigenes zimmer bekommen, auch hatte pa fertig studiert und wir konnten uns eine größere wohnung leisten.
ich hatte ihn in den letzten jahren kaum gesehen, er hatte schichtdienst und studierte nebenbei.
als schon älterer student war er inmitten der studentischen unruhen und umwälzungen an der uni, aber seinen fachbereich (physik/mathematik/meteorolgie) hat das nicht so sehr berührt. trotzdem war er wach und offen den forderungen der studenten gegenüber, aber er hatte eine familie zu ernähren und beteiligte sich daher nicht.
bei uns hieß es meist "psssscht, sei still, pa schläft/lernt!"
nun, ich war ja nur zu gerne draußen, habe aber in diesen jahren den kontakt zu ihm etwas verloren.
in der umgebung der alten wohnung konnte ich mich erholen; zuerst brauchte ich das nach dem kindergarten, später wegen der schule.
im kindergarten fiel ich aus meiner wolkenwelt hinein in das toben und lärmen, spielen und erzogen werden. alles das, was ich nicht kannte oder mochte.
die einschulung verfrachtete mich in die vorstufe der hölle, ich war 5 und mit 48 kindern in eine klasse gesteckt worden.
es gab kein entkommen, die erste zeit mußte ich mich oft übergeben und wurde nach hause geschickt. das brachte mir aber ärger mit ma ein und ich blieb doch lieber in der schule.
ich verstand diese kinder noch weniger, als die im kindergarten und litt sehr unter dem lärm in den pausen. jeden tag nach schulschluss bezog ich klassenkeile, manchmal durfte ich an der hand unserer klassenlehrerin bis zur ersten straßenecke laufen, dann ließen mich alle in ruhe. ich tat ihr wohl leid, sie war nett, aber interveniert hat sie in keiner form. ein einziges mal bat ich meine eltern um hilfe, aber sie lachten und nahmen mich nicht ernst.
immerhin wurde ich jetzt satt; ich klaute die ungegessenen schulbrote anderer kinder, bekam milch von den amis und auf dem schulweg gab es eine spezielle art von büschen, deren junge triebe ich mit wonne verschlang.
(als erwachsene erzählte ich meinem bruder davon und er war ganz verblüfft, da er genau diese triebe auch gegessen hatte!)
auch traute ich mich weiter und weiter von zuhause weg, erkundete
die gegend, vor allem die lebensmittelgeschäfte. ich stahl wie ein rabe, wurde jedoch oft erwischt und von der polizei nachhause gebracht. es gab ein gespräch mit meinen eltern, ein gespräch meiner eltern mit mir und langen stubenarrest als strafe.
ich mußte kilometerweit laufen, um noch unbekannterweise ein geschäft betreten zu können.

aus dieser komplizierten, aber doch vertrauten welt zogen wir in einen riesigen neubaukomplex, nach lankwitz.
der bau war nicht fertiggestellt und anfangs teilten sich die hausbewohner, pro haus eine toilette. die wände waren feucht und im ersten sommer haben uns schwärme von mücken gequält. wir balancierten auf brettern zu den häusern; regnete es, war alles voll mit schlamm und es quietschte beim laufen, man verlor auch schon mal einen schuh darin.
der ganze komplex war ein herrlicher abenteuerspielplatz für die kinder.
die kinder.
auf einmal lebte ich mitten unter ihnen. allein sein, das ging nicht mehr, irgendeines fand mich immer.
ich versuchte mir bei den gleichaltrigen abzugucken, wie sie miteinander spielten und ging dann zu den kleineren, um das zu nachzumachen.
die wollten mich aber bald nicht mehr um sich haben, denn ich spielte nur das spielen und sie merkten das.
so fanden mich bald alle komisch und von den gleichaltrigen bezog ich wie gewohnt prügel. in der schule hingegen hatte ich zwar probleme und musste oft die klasse wechseln, aber verhauen hat mich dort keiner mehr.
für mich waren die kinder und ihre familien interessante studienobjekte.

mit dem umzug wurde es auf einmal bunt, das graue schwere umfeld verschwand.
die 70er explodierten von beginn an in einem knallfarbenen konsumrausch, jedenfalls in den anderen familien. ich beobachtete was sie aßen, tranken, wie sie sich kleideten und was sie unternahmen. wackelpudding und rote grütze kannte ich zwar, aber so etwas wie tri-top, kaba-banane oder -himbeere, fertiggerichte und desserts, auch aus dosen!, getränke aus pulver, prickelnde bonbons, creme 12 oder stinkige fa-seife, deodorants die man von weitem roch, solche dinge erstaunten mich. es gab dunkelbraun gebrannte leute, die im tennisdress aus ihren autos stiegen, aber auch ärmliche familien, wie den russen mit seiner vietnamesischen frau und 4 kindern, bei denen ich reis aus einem reiskocher schnorrte. sie teilten immer ihr essen mit mir, reis pur ohne weitere zutaten; die frau goß eine fischsoße, die sonst keiner mochte, über ihre portion. sie lebten in kahlen räumen, ohne teppich, sofa oder anderen möbeln, nur betten und einen tisch mit stühlen besaßen sie. Im gegensatz dazu hatten die braungebrannten wohnungen mit durchmöblierten, teppichschweren räumen. überall flirrten muster, auf den tapeten, vorhängen, tischdecken und auf den lampen. fotos, bilder, kalender und pinnwände -
mir schwirrten die sinne.

bei meinen eltern war es ein mittelding davon. anfangs noch leer und hallend, zogen langsam und gemächlich möbel, bilder, lampen und teppiche bei uns ein. zu meinem bedauern gab es nie muster, nirgends, alles war ton in ton gehalten. und es gab auch keine fertignahrung oder exotische süßspeisen.

war mir das verhalten der kinder untereinander schon ein rätsel, so konnte ich mich nicht sattsehen am familienleben der anderen. da ich mich durch die klassiker der literatur durchschmökerte, wurde mir immer mehr bewusst, wie anders ich war, wie anders unser familienleben war. je älter ich wurde, desto dichter und voller wurde die zeit; mit eindrücken und erlebtem, mit gedanken und gefühlen. als kleines kind waren die tage gleichförmiger, ich lebte mehr im im augenblick. nun vergingen sie mal schnell, mal schleichend und ich lernte die angst vor dem nächsten tag kennen. ich bekam meine erste depression und wusste durch meine lektüre, was zu tun war. ich aß goldregensamen, mir wurde elendig übel und keiner bemerkte es.
ich kam aufs gymnasium und hatte einen gewaltigen wachstumsschub. auf einmal sah ich aus wie 16, bekam meine erste blutung und das mit knapp 11 jahren. das ging so rasant bei mir, daß ich nicht hinterkam, innerlich. andauernd wollten mir die jungens, auch einige mädchen, unter den pulli fassen, aber reden wollten sie nichts. ich ließ sie, nein-sagen hatte ich nicht gelernt, und freute mich, ich naives ding, daß jemand überhaupt etwas von mir wollte.

im gegensatz zu den anderen familien fuhren wir nicht zusammen in die ferien, ich wurde verschickt. das kannte ich seit ich klein war, trotzdem war es immer eine tortur, denn ich war wieder mal allein unter vielen fremden. als ich nun so frühreif versendet wurde, lernte ich an der nordsee eine dänische fußballmannschaft kennen. sie wohnten im camp neben dem unseren und da ich mit den kindern bei mir nur schwierigkeiten hatte, sagte ich dort mal hallo. einer gefiel mir sehr gut und ich ihm. wir sprachen englisch miteinander, was ich fließend beherrschte, da ma und pa es dauernd zuhause sprachen.
er verabredete sich mit mir zu einem nachtspaziergang und so liefen wir im dunklem durch die dünen. in einer der senken waren 2 menschen irgendwie miteinander lautstark beschäftigt und er lachte. da er lachte, lachte ich auch....wir machten rast, er fing an mich zu küssen. dafür daß es mein erstes küssen war, war es wundervoll. mir wurde ziemlich warm und er berührte mich am ganzen körper. komischwerweise gefiel mir das. dann fragte er mich nach medikamenten und ich verstand ihn nicht. the pill - the pill! wiederholte er. dann fragte er mich, wie alt ich sei. dann brachte er mich sofort zurück ins camp. und ich war wirklich sauer, weil es hatte doch versprochen ziemlich interessant zu werden.
ich hatte einen echten gentlenman erwischt, er hätte die situation auch anders nutzen können, das weiß ich heute.
so verwirrend erging es mir am anfang der 70er jahre. ich war ein seltsames kind, außen mit dem hintern und brüsten einer frau, intern belesen und altklug, aber absolut naiv.
aufgefangen wurde ich von den mitschülerinnen meiner gymnasialklasse. eine clique nahm mich unter ihre fittiche. sie hatten alle blonde lange haare, trugen schlaghosen und clogs. ich denke, sie hatten mitgefühl, da ich schlecht und schräg gekleidet war, immer hunger hatte, von nichts (nichts war: musik, männer, mode) eine ahnung hatte. ich bekam klamotten, eine stones-lp und wurde in einiges miteinbezogen. ich durfte sie besuchen, wurde von ihnen ernstgenommen, ohne daß es nach einigen wochen, wie bei meinen sonstigen erfahrungen, ins gegenteil umschlug.

am 11.09.1973 wurde in chile geputscht und damit drang die "große" außenwelt endgültig in mein bewusstsein. an diesem tag bin ich politisch erwacht. es gab etliche solidarveranstaltungen in lankwitz und ich mischte dort mit, obwohl ich erst 12 jahre alt war. dabei kam meine altklugheit gelegen und ich fiel nicht auf. mich regte die ungerechtigkeit auf und es ging um die gefühle von anderen, damit konnte ich umgehen.
im gymnasium fühlte ich mich wohl, hatte mittlere bis gute leistungen , aber zuhause gab es immer mehr auseinandersetzungen. wie schon in der grundschule haute ich ab, verschwand über nacht und als ich einen neuen klassenlehrer bekam wurde es kritisch.
dieser mensch führte mich regelmässig vor und machte es mir schwer weiter gute leistungen zu erbringen. er mobbte mich, bis er es schaffte, daß ich der schule verwiesen wurde. meine eltern und das lehrerkollegium glaubten ihm, natürlich.
(später kam heraus, daß er das an all seinen schulen so machte: er suchte sich den sensibelsten schüler und mobbte drauflos, bis er ihn von der schule geschafft hatte. ein elternpaar zeigte ihn an und kam tatsächlich vor gericht, wurde seines beamtenstatus enthoben und der schule verwiesen. er mußte dem klagenden schüler schmerzensgeld zahlen und durfte nicht mehr als lehrer arbeiten.)
1974 kam ich auf die schulfarm insel scharfenberg, die einzige schule in berlin, die ich noch besuchen durfte.

in berlin

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herzlichen dank. in all dem streß wegen meines...
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danke sid. ich brauche noch einige zeit....
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vielen dank.
vielen dank.
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