annemarie
Samstag, 4. Oktober 2014
berlinische leben / auf dem weg zur straße / internat 1974-1979 / lesung 2014
unser alltag zuhause war quälend geworden; laut mit streit oder in wochenlangem eisigen schweigen.
im gymnasium hatte ich jeden tag ärger mit meinem klassenlehrer, bis er es schaffte, daß ich der schule verwiesen wurde.
eines abends fragten mich die eltern, ob ich einverstanden wäre, auf ein internat zu gehen. die schulzeit würde von montag früh bis samstag mittag dauern und das wochenende lebte man zuhause.
ich sagte sofort zu.


die ersten monate auf scharfenberg waren erholsam und aufregend.
nie zuvor hatte ich in solch einem umfeld gelebt:
auf einer insel im tegeler see, auf der es einen bauern samt tierischen zubehör, eine tischler- und eine metallwerkstätte, ein haus nur für musik und kunst, ruder-segel und paddelboote, einen wald mit seltenen bäumen und pflanzen, felder und äcker, einen eigenen fährmann und viele kleine wohnhäuser für uns schüler, gab.
jedes haus hatte einen sozialarbeiter für tagsüber und einen, der die nächte dort verbrachte. einige lehrer wohnten mit ihren familien auch auf der insel, sie hatten kleine einfamilienhäuser, etwas abseits gelegen. der direktor lebte, auch mit familie, zentral inmitten der schülerhäuser.
es gab einen großen speisesaal, ich genoss morgens die frischgemolkene milch, aß die mittägliche hausmannskost, nahm kaffee+kuchen und fehlte nie beim abendbrot, endlich keine kargen zuteilungen mehr! ich wurde immer satt und ziemlich rundlich. ab diesem moment hörte ich auf nahrungsmittel zu stehlen.
allerdings musste mein bio-leistungskurs der tötung eines schweines unseres bauern beiwohnen; diese ging quälend von statten und ich wurde für die nächsten 20 jahre vegetarierin.
ich lernte kleine kommödchen und regale selber herzustellen, lief stunden durch die felder und den wald, lag am handtuchgroßen inseleigenen strand, verschwand aber immer öfter im kunsthaus. meist erklang dort plätschernde klavierspielerei oder trompete in übung und das begleitete mich bei meinen erkundungen der druckwerkstätten oder beim stöbern in den materialien in den anderen räumen.
es war alles vorhanden für linolschnitte, zum freien malen, kupfer für die kaltnadelradierung, lithographiesteine zum drucken, werkzeuge zum bildhauern.
im normalen kunstunterricht lernte ich holzkohle selber herzustellen, nahm eine ölfarbenpalette in besitz, entdeckte das tuschen mit feder und meine bald heißgeliebten pastellkreiden.
das nahm ich, ja saugte ich gierig auf und all das wissen darum hat mich bis heute nicht verlassen.
leider lernte ich nicht das metallverarbeiten, dafür aber noch rudern, segeln und schlittschulaufen. es ging nur nach dem lustprizip, da ich hier nur mir selber überlassen war und so dann auch - unreif wie man mit 15, 16 ist - meine entscheidungen traf.
zu beginn meiner inselzeit war rudi müller noch direktor; er nahm mich sofort in die schauspielgruppe auf und erlaubte mir so viele bücher wie ich wollte, aus seinem haus zu entnehmen. und er hatte viele bücher! sie fanden sich überall, sogar auf der treppe ins obergeschoss stapelten sie sich, mitsamt den stufen, hoch.
leider wurde er ein jahr später ausgewechselt und lehrte nur noch an der hdk*. der neue direktor ist keine erwähnung wert.
rudi musste sich opfern, da die insel ständig von schließung bedroht war. natürlich wegen finanzieller dinge... und wegen rudis freiem und toleranten führungsstil.
wir schüler organisierten viele aktionen gegen die schließung, einmal war die abendschau da und an einem mittwoch kam jürgen jürgens mit seinem sfbeat-team und berichtete davon. dazu interviewte er eine schülerin - mich. so etwas traute ich mich, darüber staune ich noch heute.
wir hatten erfolg, die schulfarm insel scharfenberg blieb bestehen.
bis heute.

meine mitschüler empfand ich als zwar als fremd, aber nicht als sonderlich bedrohlich.
schnell fand ich kontakt zu den ältesten, die kurz vor dem abitur standen und mir versuchten schach beizubringen (vergeblich), mathe-nachhilfe erteilten (vergeblich) oder versuchten mich zu verführen, ebenfalls (vergeblich).
die etwa gleichaltrigen sah ich nicht als eine homogene gruppe, verstand anfänglich aber nicht, was diesen unterschied ausmachte.
wir 9-und 10-klässler kamen aus 2 bevölkerungsschichten: solche wie ich, meist aus ziemlich gutem hause (kinder von politikern, hochrangigen beamten, vorstandvorsitzenden, etc.). wir hatten unlösbare probleme auf unseren alten gymnasien und familien gehabt, und die anderen kamen als quereinsteiger von haupt- oder realschulen. sie bekamen zuhause nicht die nötige unterstützung, um abitur an einem tagesgymnasium machen zu können.
letztere fraktion war konservativ bis nazistisch, die andere links, linker, am linkesten, aufbegehrend gegen das meist politisch rechts geprägte zuhause.
die konservative fraktion ging zum großen teil in den polizeidienst und nach kürzlichen recherchen entdeckte ich, daß immernoch einige dabei sind....

frisch auf der insel verbrachte ich viele abende bei 2 deutschen und 2 türkischen jungen.
die beiden deutschen waren echte nazis ( das wusste ich anfangs nicht, ich finde ja immer erstmal jeden nett) und die beiden türken stammten aus berlins reichsten immigrantenfamilien.
ich sag nur: teppiche.
mit einem der türken hatte ich die vorliebe für rock'n'roll entdeckt und er staunte über mein tanzvermögen und meine beweglichkeit. wir tanzten bis der schweiß unsere hände auseinandergleiten ließ.
ich hatte spaß, bis ich eines abends durch die tür kam, in den schwitzkasten genommen wurde und mir "sei still, jetze keine fisematenten" ins ohr geraunt wurde. ich verstand nicht, was passierte und einer der beiden deutschen baute sich drohend vor mir auf. er war sowieso ein riesiger kerl und so blieb ich still.
er kniff mich hier und da, versetzte mir boxhiebe, bis er mir mit den worten "wolln wa ma deine judennase plätten!" wirklich einen harten schlag auf meine nase gab. danach warfen sie mich aus dem raum.
Wir tanzten nie wieder rock'n'roll zusammen und ich versteh bis heute zwei dinge nicht:
warum die beiden türken da mitmischten und
warum sie meinten ich hätte eine judennase.
von meiner jüdischen abstammung erfuhr ich selber erst viele jahre später.
verletzt, voll mit angst und ziemlich perplex zog ich mich in die andere fraktion zurück.
die hatten aber genug mit sich selbst zu tun, genau wie die lehrer und sozialarbeiter.
die lehrerschaft kam nicht unbedingt freiwillig von anderen schulen zu uns, sie waren alle sehr speziell, klagten wegen des anspruchs von vaterschaften, bei den alleinstehenden weiblichen lehrkräften bis vor die gerichte oder schrieben, wie mein musiklehrer z.b. an mich, schlüpfrige briefchen über pflaumen, die sie von jungen bäumen pflücken wollten.
die sozialarbeiter kümmerten sich nur um dich, wenn du mit 15 schwanger wurdest und/oder heroinanbhängig, alles darunter war uninteressant.
die linke fraktion verstand mich nicht, ich sie ebensowenig und so zog ich mich mehr und mehr zurück. ich war eben nicht sandelholzparfümiert, kannte keinen einzigen linken liedermacher, las nicht mao, war nicht frauenbewegt und nicht besonders sanft.
trotz meiner parteinahme für salvador allende, konnte ich mit der verbissenheit und dem dogmatismus, der hier herrschte, nichts anfangen.

ich nahm kein speisesaalfrühstück mehr, mittagessen immer seltener und abends holte ich mir schnell nur etwas fürs zimmer.
vollends den halt verlor ich, als ich an den zuhause-wochenenden immer öfter im hausflur vor der elterlichen wohnung saß und vergeblich wartete. sie vergaßen mich und so ging ich dann nicht mehr zu ihnen. noch heute sind die beiden der meinung, ich wäre einfach nicht mehr aufgetaucht.
ich fing an zu trinken.
nach dem aufstehen kippte ich meist ein scheußliches sangriagesöff und ging brav in den unterricht. ich setzte mich in die letzte reihe und versuchte zu stricken. das war damals im unterricht erlaubt.
einmal war ich nicht betrunken und kippelte auf meinem stuhl herum, da warf mich der lehrer raus - weil ich angeblich betrunken wäre.
ich war empört. völlig zu recht!
so kam es, daß ich außer dem kunstunterricht die stunden verträumte und verstrickte.

die wochenenden und ferien verbrachte ich oft bei a., meiner einzigen freundin. sie war wie ich einzelgängerin und das verband uns.
die anderen einzelgänger hatten seltsame vorlieben, wie exzessives hören von kraftwerk oder der ddr-band, die "über 7 brücken mußt du gehn..." jaulte, und sie waren zumeist männlich, rochen angestaubt bis säuerlich, da kam ein befreunden für mich nicht in frage.
a. und ich stritten oft und heftig, fanden aber immer wieder zueinander, da wir uns gegenseitig schützen konnten.
warum das so war, ist eine andere geschichte...
ich fing an auszugehen und da a. in kladow wohnte, wo es nach 10 abends keinen bus mehr gab, machte ich meist durch. in der bleibtreustraße, am ku-damm, im meadow und kurz später entdeckte ich das ballhaus spandau; tanzen-tanzen-tanzen und das stundenlang. dort hörte ich zum 1.mal patti smith und war wie elektrisiert....
eines abends sah ich am u-bahnhof leopoldplatz 3 jungs, die sich in dem einfahrenden zug aus den offenen türen lehnten und irgendwelches zeugs brüllten. die sahen sowas von schau aus. lederjacken, schwarz und speckig, wirre haare. ich rannte zu ihnen, fragte sie nach treffpunkten und bekam schön schnodderig infos über das shizzo und die music-hall.
damit war mein schicksal bestimmt, ich wurde punk!
volle kanne!
auf die insel kam ich nur noch sporadisch, ich lebte mal hier und mal dort, und auf der straße.
keinen lehrer oder sozialarbeiter interessierte das, auch meine eltern versuchten nie, mich irgendwie zu erreichen.
ein letztes mal fuhr ich am 3. februar 1979, meinem 18.geburtstag, nach scharfenberg und ich holte mir ein abgangszeugnis ab.

in den folgenden jahren lebte ich wie es in "auf der straße" beschrieben wird. ich musste aber oft an die insel denken, an einige von meinen mitschülern.
zum beispiel stand ich, mit den ersten frischen erdbeeren, an der ampel adalbert- ecke oranienstraße, und genoss den herrlichen geschmack. ich spürte, daß mir jemand hinterrücks sehr nahe kam und hörte diesen sagen:
"schade. schade. daß wir niemanden mehr vergasen können. du gehörst vergast."
das kam von einem ungefähr 40-bis 50jährigen mann. an seiner seite eine gleichaltrige frau.
wie erfroren stand ich und konnte mich nicht mehr bewegen, während die beiden ruhig über die straße gingen.
ich kannte das. wie oft hatte ich solche und andere schreckliche äußerungen von mitschülern gehört. mal an mich gerichtet oder dann wenn sie sich über andere menschen unterhielten.
meine mitschüler waren jung, dieser mann war "alt".
je länger ich mich erkennbar als punk durch meine stadt bewegte, desto häufiger bekam die dunkelbraunen äußerungen zu hören.
als hätte ich ein schleppnetz hinten angebunden, fing ich sie mir ein, nur wegen meiner andersartigkeit.
sie trauten sich - sie öffneten sich - sie zeigten mir, was in ihnen lebte.
immernoch, weiterhin. nur dann laut vernehmbar, trafen sie auf "abschaum" wie mich. dann brach der damm und es wurde gegeifert und geschäumt und sie freuten sich endlich ein ordentliches feindbild zu haben.
nach meinen erfahrungen auf dem internat wurde ihre braunen ansichten an die kinder weitergegeben.
und selbst wenn mir jenny im shizzo nicht - zufälligerweise auch beim rock'n'roll-tanzen! - die nase gebrochen hätte, an meiner nase befände sich doch ein knick, seit jenem abend auf scharfenberg und ich muss bis heute daran denken, woher der knick kommt.



*Hochschule der Künste, heute Universität der Künste.

in berlin

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Ich weiss nicht, wie Zeiten heute sind, aber in den Siebzigern war es für Leute mit einem fremden Aussehen wie mich oft schwierig, auch nur über die Strasse zu gehen. Unzählige Male sass ich auf Polizeiwachen "zur Personenkontrolle", konnte keine Grenze überschreiten, ohne gefilzt zu werden, wildfremde Leute betitelten mich auf der Strasse mit "dreckiger Schweinehund", "Drogenhändler", "Neandertaler" oder "Araber", was offenbar dasselbe bedeutete und als Massnahme für Leute wie mich schlug man mir nicht selten das sofortige Erschiessen oder Hängen vor. Schlüpfrige Briefchen habe ich nie erhalten und doch waren zwei, drei Damen der Schöpfung ziemlich forsch, was das Überschreiten von Grenzen anbelangte, einmal in einem Kinderheim und einmal in einem Untersuchungszimmer am hiesigen Krankenhaus (letzteres ziemlich krasses Erlebnis kam mir erst vor etwa zwei Jahren wieder in's Bewusstsein).
Punk bin ich nie geworden, dazu war ich zu alt, ein eher stiller Rebell und zudem fehlte mir der soziale Hintergrund.

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ich denke, die zeiten sind besser geworden; allein weil viele der geiferer alt geworden sind. oder nicht mehr am leben sind.
jene, die in den 70ern sie und mich und viele andere ins totenreich wünschten, liessen nichts weiter als ihre, unter der properen bürgeroberfläche verborgenen, in der nazizeit erworbenen ansichten heraus.
das fing ja schon mit dem "verabscheuen/verteufeln" der rock´n´roller in den 50er jahren an....
ich habe einen alten nachbarn, der mir regelmässig aufträgt meine "negermusik" auszuschalten.
die zeit wird es richten; hauptsache ist, daß wir unsere behandlung nie vergessen und das nicht weiter transportieren.

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Ich weiss, wie sich das anhört, aber ich schreibe es dennoch:
ich wäre als Heranwachsende gerne von meinen Eltern ignoriert worden, anstatt dieses ständige beobachtet, kontrolliert und korrigiert werden, mit dieser ständigen Kritik und dem Gefühl, zu enttäuschen und nicht zu genügen.
Ich orientierte mich anfangs, mit 15, 16, zur "Rockerszene" und das war natürlich daheim das Fiasko schlechthin. Später, als ich endlich eine eigene Wohnung hatte, waren aus die Punker. Ein alter, abgetragener Mantel eines entfernten Verwandten, ein Opa-Mantel, war mein bestes Stück. Spott und Häme meiner Mitmenschen waren mein grösstes Lob.
Hätten mich meine Eltern nicht von Grund auf verängstigt, wäre ich vermutlich auch abgetaucht, aber ich habe lange zu tun gehabt, nicht vor allem und jedem Angst zu haben, so dass ich irgendwann einen Beruf erlernt, ein einigermassen stabiles (winziges) Umfeld hatte und einfach zu alt war.

Ich glaube das Anpöbeln Andersartiger ist eher schlimmer geworden gegenüber früher. Was ich manchmal so an Bushaltestellen oder auf der Strasse höre, meine Güte, die sollten sich selber mal gut zuhören.

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das wäre dann das andere extrem, was genauso wenig eine gute erziehung ist und einem nicht das nötige rüstzeug für ein zufriedenes leben vermittelt.
(wobei ich anmerken muß, daß stete beobachtung/kontrolle/dauerkritik mir nicht fremd war, bevor ich dann gehen durfte...)

über deine aussage zum anpöbelen musste ich ´ne weile nachdenken.
mir ging es konkret um die versteckte nazistische einstellung; z.b. in der grundschule (60er jahre) brach das bei manchem lehrer durch, wenn er unter streß kam....
mir ging es darum, daß "es" niemals verschwunden war, nur unterdrückt.
die heutige form des umgangs ist natürlich eine frucht der vorhergegangenen erziehung, die davon reichlich berührt wurde, quasi die fortführung dessen, was ich beschreiben wollte.
(meine güte, ich habe heute nur lange wurmsätze in mir... ;) )

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Wenn man nichtdeutsche Mitmenschen als "Muscheltaucher" oder "Balucken" bezeichnet, ist das in meinen Augen durchaus offen nazistisch. Und das höre ich nicht nur von älteren Herrschaften, wobei ich bei manchen jungen nicht sicher bin, ob die wissen, was damit gemeint ist, oder ob die nur nachplappern.

Besser Wurmsätze als nur Wurm. :-)))

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