annemarie
Freitag, 3. Juni 2016
loslassen, du mußt
habe ich am häufigsten gesagt bekommen.
abgesehen von dem "muß", welches man niemandem ausser sich selbst
befehlen sollte, ist das gequirlte kacke.
die aussagen nahm ich zunächst ernst und mühte mich daran, bis ich das gefühl hatte,
zu versteinern.
es ging mir immer schlechter und ich verbarg das, da mir die folgenden bemerkungen einleuchtend vorkamen und ich dachte - so muß das sein:
"tot ist tot und er ist nicht gestorben, damit du dich grämst."
"seine seele ist frei, es geht ihm gut und du hinderst die ihn engültig befreit zu sein, wenn du festhälst."
"jetzt ist aber mal genug."
....

ich kam mir vor, als trüge ich die verantwortung für den zustand seiner seele;
was immer sie ist und wo immer sie auch sein mag - ich bin mir da nicht sicher.
je länger (wer bestimmt was lange ist?) ich also trauere, desto übler für ihn.
aha.
nur meiner ärztin gegenüber brach mir die fassade einen spalt auseinander und sie gab mir rat, fürsorge und literatur über das trauern.
darin erkannte ich mich wieder, nicht mehr essen zu können, nicht mehr zu trinken;
das verdrängen/leugnen bis die realität dich erneut mit wucht zurückschleudert;
das gefühl irre zu sein und weiter zu werden;
nicht mehr zu funktionieren, alles zu vergessen, was vorher automatisch ablief;
sich dem gestorbenen nähern zu wollen, vielleicht auch zu vereinigen,
indem man am besten auch stirbt.
ich zitiere: (augustinus, nach dem tod seines besten freundes, ein 1. halbsatz wird von ihm zitiert, nach ovid) )

"durch diesen schmerz kam tiefe finsternis über mein herz....
ich war mir selbst zu einer einzigen großen frage, und ich forschte in meiner seele, warum sie traurig sei, warum sie mich so sehr verwirre, so wußte sie mir nichts zu antworten.
....
denn ich habe seine und meine seele als einzige in meinem körper empfunden (ovid, trist.IV,4,72) und deshalb schauderte es mich vor dem leben, weil ich nicht als halber leben wollte, und deshalb fürchtete ich vielleicht zu sterben, weil er, den ich so sehr geliebt, dann ganz gestorben wäre."


und ich zitiere: (verena kast, trauern)

"stirbt ein geliebter mensch, so nehmen wir in seinem sterben nicht nur antizipatorisch unser eigenes sterben vorweg; wir sterben in gewisser weise auch mit ihm.
es wird uns kaum je so radikal bewußt wie beim tod eines geliebten menschen, in welchem maß wir uns aus unseren beziehungen zu anderen menschen und dingen verstehen und erfahren, in welchem maß der tod einer solchen beziehung uns aufbricht und neuorientierung verlangt.
....
die welt tritt dem trauernden anders gegenüber als dem menschen, der nicht trauert.
und je stärker die trauer und der tod in einer gesellschaft verdrängt werden, um so weniger spontan wird diese gesellschaft mit den trauernden umgehen, desto schneller wird sie fordern, daß man endlich wieder einmal mit der trauer aufhören sollte."


wann wurde eigentlich das trauerjahr abgeschafft?
wie jede andere, hatte auch unsere gesellschaft riten und formen, um "ordentlich" trauern zu können.
die treffen seiner freunde, um seine wohnung wieder herzurichten, die trauerfeier, seine bestattung,
all das gab mir kraft und hielt mich;
im moment aber, alleine und wie unter wasser lebend, hält mich nichts mehr fest.
okay sage ich mir, ich werde aushalten, denn ich will nicht ertrinken.
und die anderen sollten mich (los-)lassen.

myself in many words

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Dein Verlust tut mir unglaublich leid. Ich denke an dich.

Dein Beitrag hat mich an eine Diskussion vor ein paar Jahren zum Thema Trauer im Diagnostik-Handbuch für psychische Störungen DSM-5 erinnert. Dort ging es darum, dass Trauer bereits nach 2 Wochen als psychische Krankheit deklariert werden sollte. Das löste eine Diskussion auch darüber aus, wie viel Platz Trauer im öffentlichen Leben überhaupt noch hat. Ich finde: nimm dir diesen Platz einfach! Es schmerzt mich zu lesen dass du damit in deinem Umfeld weitestgehend allein zu sein scheinst (falls ich mich irre, bitte sieh mir nach). Wie Verena Kast sagt: die anderen wissen nicht mit deiner Trauer umzugehen, sind überfordert, vielleicht können sie es nicht nachvollziehen, also machen sie ihr Unvermögen zu deinem Problem, das du lösen sollst, indem du dich jetzt bitte zusammenreißt. Das sollte es nicht werden. Es steht dir zu dir alle Zeit zu nehmen die du brauchst. Und nur dir steht es zu zu beurteilen, wann du bereit bist loszulassen.

Falls dich die Diskussion interessiert (hier wird u.a. auc h Verena Kast zitiert): http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/trauerzeit-laut-dsm-5-nicht-laenger-als-zwei-wochen-13278887.html

Das Ovid-Zitat finde ich übrigens wunderschön. Danke fürs Teilen.
Alles erdenklich Gute.

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ich danke dir!

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