annemarie
Samstag, 4. Oktober 2014
berlinische leben / auf dem weg zur straße / internat 1974-1979 / lesung 2014
unser alltag zuhause war quälend geworden; laut mit streit oder in wochenlangem eisigen schweigen.
im gymnasium hatte ich jeden tag ärger mit meinem klassenlehrer, bis er es schaffte, daß ich der schule verwiesen wurde.
eines abends fragten mich die eltern, ob ich einverstanden wäre, auf ein internat zu gehen. die schulzeit würde von montag früh bis samstag mittag dauern und das wochenende lebte man zuhause.
ich sagte sofort zu.


die ersten monate auf scharfenberg waren erholsam und aufregend.
nie zuvor hatte ich in solch einem umfeld gelebt:
auf einer insel im tegeler see, auf der es einen bauern samt tierischen zubehör, eine tischler- und eine metallwerkstätte, ein haus nur für musik und kunst, ruder-segel und paddelboote, einen wald mit seltenen bäumen und pflanzen, felder und äcker, einen eigenen fährmann und viele kleine wohnhäuser für uns schüler, gab.
jedes haus hatte einen sozialarbeiter für tagsüber und einen, der die nächte dort verbrachte. einige lehrer wohnten mit ihren familien auch auf der insel, sie hatten kleine einfamilienhäuser, etwas abseits gelegen. der direktor lebte, auch mit familie, zentral inmitten der schülerhäuser.
es gab einen großen speisesaal, ich genoss morgens die frischgemolkene milch, aß die mittägliche hausmannskost, nahm kaffee+kuchen und fehlte nie beim abendbrot, endlich keine kargen zuteilungen mehr! ich wurde immer satt und ziemlich rundlich. ab diesem moment hörte ich auf nahrungsmittel zu stehlen.
allerdings musste mein bio-leistungskurs der tötung eines schweines unseres bauern beiwohnen; diese ging quälend von statten und ich wurde für die nächsten 20 jahre vegetarierin.
ich lernte kleine kommödchen und regale selber herzustellen, lief stunden durch die felder und den wald, lag am handtuchgroßen inseleigenen strand, verschwand aber immer öfter im kunsthaus. meist erklang dort plätschernde klavierspielerei oder trompete in übung und das begleitete mich bei meinen erkundungen der druckwerkstätten oder beim stöbern in den materialien in den anderen räumen.
es war alles vorhanden für linolschnitte, zum freien malen, kupfer für die kaltnadelradierung, lithographiesteine zum drucken, werkzeuge zum bildhauern.
im normalen kunstunterricht lernte ich holzkohle selber herzustellen, nahm eine ölfarbenpalette in besitz, entdeckte das tuschen mit feder und meine bald heißgeliebten pastellkreiden.
das nahm ich, ja saugte ich gierig auf und all das wissen darum hat mich bis heute nicht verlassen.
leider lernte ich nicht das metallverarbeiten, dafür aber noch rudern, segeln und schlittschulaufen. es ging nur nach dem lustprizip, da ich hier nur mir selber überlassen war und so dann auch - unreif wie man mit 15, 16 ist - meine entscheidungen traf.
zu beginn meiner inselzeit war rudi müller noch direktor; er nahm mich sofort in die schauspielgruppe auf und erlaubte mir so viele bücher wie ich wollte, aus seinem haus zu entnehmen. und er hatte viele bücher! sie fanden sich überall, sogar auf der treppe ins obergeschoss stapelten sie sich, mitsamt den stufen, hoch.
leider wurde er ein jahr später ausgewechselt und lehrte nur noch an der hdk*. der neue direktor ist keine erwähnung wert.
rudi musste sich opfern, da die insel ständig von schließung bedroht war. natürlich wegen finanzieller dinge... und wegen rudis freiem und toleranten führungsstil.
wir schüler organisierten viele aktionen gegen die schließung, einmal war die abendschau da und an einem mittwoch kam jürgen jürgens mit seinem sfbeat-team und berichtete davon. dazu interviewte er eine schülerin - mich. so etwas traute ich mich, darüber staune ich noch heute.
wir hatten erfolg, die schulfarm insel scharfenberg blieb bestehen.
bis heute.

meine mitschüler empfand ich als zwar als fremd, aber nicht als sonderlich bedrohlich.
schnell fand ich kontakt zu den ältesten, die kurz vor dem abitur standen und mir versuchten schach beizubringen (vergeblich), mathe-nachhilfe erteilten (vergeblich) oder versuchten mich zu verführen, ebenfalls (vergeblich).
die etwa gleichaltrigen sah ich nicht als eine homogene gruppe, verstand anfänglich aber nicht, was diesen unterschied ausmachte.
wir 9-und 10-klässler kamen aus 2 bevölkerungsschichten: solche wie ich, meist aus ziemlich gutem hause (kinder von politikern, hochrangigen beamten, vorstandvorsitzenden, etc.). wir hatten unlösbare probleme auf unseren alten gymnasien und familien gehabt, und die anderen kamen als quereinsteiger von haupt- oder realschulen. sie bekamen zuhause nicht die nötige unterstützung, um abitur an einem tagesgymnasium machen zu können.
letztere fraktion war konservativ bis nazistisch, die andere links, linker, am linkesten, aufbegehrend gegen das meist politisch rechts geprägte zuhause.
die konservative fraktion ging zum großen teil in den polizeidienst und nach kürzlichen recherchen entdeckte ich, daß immernoch einige dabei sind....

frisch auf der insel verbrachte ich viele abende bei 2 deutschen und 2 türkischen jungen.
die beiden deutschen waren echte nazis ( das wusste ich anfangs nicht, ich finde ja immer erstmal jeden nett) und die beiden türken stammten aus berlins reichsten immigrantenfamilien.
ich sag nur: teppiche.
mit einem der türken hatte ich die vorliebe für rock'n'roll entdeckt und er staunte über mein tanzvermögen und meine beweglichkeit. wir tanzten bis der schweiß unsere hände auseinandergleiten ließ.
ich hatte spaß, bis ich eines abends durch die tür kam, in den schwitzkasten genommen wurde und mir "sei still, jetze keine fisematenten" ins ohr geraunt wurde. ich verstand nicht, was passierte und einer der beiden deutschen baute sich drohend vor mir auf. er war sowieso ein riesiger kerl und so blieb ich still.
er kniff mich hier und da, versetzte mir boxhiebe, bis er mir mit den worten "wolln wa ma deine judennase plätten!" wirklich einen harten schlag auf meine nase gab. danach warfen sie mich aus dem raum.
Wir tanzten nie wieder rock'n'roll zusammen und ich versteh bis heute zwei dinge nicht:
warum die beiden türken da mitmischten und
warum sie meinten ich hätte eine judennase.
von meiner jüdischen abstammung erfuhr ich selber erst viele jahre später.
verletzt, voll mit angst und ziemlich perplex zog ich mich in die andere fraktion zurück.
die hatten aber genug mit sich selbst zu tun, genau wie die lehrer und sozialarbeiter.
die lehrerschaft kam nicht unbedingt freiwillig von anderen schulen zu uns, sie waren alle sehr speziell, klagten wegen des anspruchs von vaterschaften, bei den alleinstehenden weiblichen lehrkräften bis vor die gerichte oder schrieben, wie mein musiklehrer z.b. an mich, schlüpfrige briefchen über pflaumen, die sie von jungen bäumen pflücken wollten.
die sozialarbeiter kümmerten sich nur um dich, wenn du mit 15 schwanger wurdest und/oder heroinanbhängig, alles darunter war uninteressant.
die linke fraktion verstand mich nicht, ich sie ebensowenig und so zog ich mich mehr und mehr zurück. ich war eben nicht sandelholzparfümiert, kannte keinen einzigen linken liedermacher, las nicht mao, war nicht frauenbewegt und nicht besonders sanft.
trotz meiner parteinahme für salvador allende, konnte ich mit der verbissenheit und dem dogmatismus, der hier herrschte, nichts anfangen.

ich nahm kein speisesaalfrühstück mehr, mittagessen immer seltener und abends holte ich mir schnell nur etwas fürs zimmer.
vollends den halt verlor ich, als ich an den zuhause-wochenenden immer öfter im hausflur vor der elterlichen wohnung saß und vergeblich wartete. sie vergaßen mich und so ging ich dann nicht mehr zu ihnen. noch heute sind die beiden der meinung, ich wäre einfach nicht mehr aufgetaucht.
ich fing an zu trinken.
nach dem aufstehen kippte ich meist ein scheußliches sangriagesöff und ging brav in den unterricht. ich setzte mich in die letzte reihe und versuchte zu stricken. das war damals im unterricht erlaubt.
einmal war ich nicht betrunken und kippelte auf meinem stuhl herum, da warf mich der lehrer raus - weil ich angeblich betrunken wäre.
ich war empört. völlig zu recht!
so kam es, daß ich außer dem kunstunterricht die stunden verträumte und verstrickte.

die wochenenden und ferien verbrachte ich oft bei a., meiner einzigen freundin. sie war wie ich einzelgängerin und das verband uns.
die anderen einzelgänger hatten seltsame vorlieben, wie exzessives hören von kraftwerk oder der ddr-band, die "über 7 brücken mußt du gehn..." jaulte, und sie waren zumeist männlich, rochen angestaubt bis säuerlich, da kam ein befreunden für mich nicht in frage.
a. und ich stritten oft und heftig, fanden aber immer wieder zueinander, da wir uns gegenseitig schützen konnten.
warum das so war, ist eine andere geschichte...
ich fing an auszugehen und da a. in kladow wohnte, wo es nach 10 abends keinen bus mehr gab, machte ich meist durch. in der bleibtreustraße, am ku-damm, im meadow und kurz später entdeckte ich das ballhaus spandau; tanzen-tanzen-tanzen und das stundenlang. dort hörte ich zum 1.mal patti smith und war wie elektrisiert....
eines abends sah ich am u-bahnhof leopoldplatz 3 jungs, die sich in dem einfahrenden zug aus den offenen türen lehnten und irgendwelches zeugs brüllten. die sahen sowas von schau aus. lederjacken, schwarz und speckig, wirre haare. ich rannte zu ihnen, fragte sie nach treffpunkten und bekam schön schnodderig infos über das shizzo und die music-hall.
damit war mein schicksal bestimmt, ich wurde punk!
volle kanne!
auf die insel kam ich nur noch sporadisch, ich lebte mal hier und mal dort, und auf der straße.
keinen lehrer oder sozialarbeiter interessierte das, auch meine eltern versuchten nie, mich irgendwie zu erreichen.
ein letztes mal fuhr ich am 3. februar 1979, meinem 18.geburtstag, nach scharfenberg und ich holte mir ein abgangszeugnis ab.

in den folgenden jahren lebte ich wie es in "auf der straße" beschrieben wird. ich musste aber oft an die insel denken, an einige von meinen mitschülern.
zum beispiel stand ich, mit den ersten frischen erdbeeren, an der ampel adalbert- ecke oranienstraße, und genoss den herrlichen geschmack. ich spürte, daß mir jemand hinterrücks sehr nahe kam und hörte diesen sagen:
"schade. schade. daß wir niemanden mehr vergasen können. du gehörst vergast."
das kam von einem ungefähr 40-bis 50jährigen mann. an seiner seite eine gleichaltrige frau.
wie erfroren stand ich und konnte mich nicht mehr bewegen, während die beiden ruhig über die straße gingen.
ich kannte das. wie oft hatte ich solche und andere schreckliche äußerungen von mitschülern gehört. mal an mich gerichtet oder dann wenn sie sich über andere menschen unterhielten.
meine mitschüler waren jung, dieser mann war "alt".
je länger ich mich erkennbar als punk durch meine stadt bewegte, desto häufiger bekam die dunkelbraunen äußerungen zu hören.
als hätte ich ein schleppnetz hinten angebunden, fing ich sie mir ein, nur wegen meiner andersartigkeit.
sie trauten sich - sie öffneten sich - sie zeigten mir, was in ihnen lebte.
immernoch, weiterhin. nur dann laut vernehmbar, trafen sie auf "abschaum" wie mich. dann brach der damm und es wurde gegeifert und geschäumt und sie freuten sich endlich ein ordentliches feindbild zu haben.
nach meinen erfahrungen auf dem internat wurde ihre braunen ansichten an die kinder weitergegeben.
und selbst wenn mir jenny im shizzo nicht - zufälligerweise auch beim rock'n'roll-tanzen! - die nase gebrochen hätte, an meiner nase befände sich doch ein knick, seit jenem abend auf scharfenberg und ich muss bis heute daran denken, woher der knick kommt.



*Hochschule der Künste, heute Universität der Künste.

in berlin

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Freitag, 3. Oktober 2014
das abschlußgedicht; für uns, die wir dieses jahr auf vielen friedhöfen gestanden haben....
im licht
 
es reibt die augenwinkel wund
bringt
den schnodder unter der nase
zum glänzen wie eis
 
wir sind übrig
 
scheinen uns zu sehen
dabei gleitet es durch alles
auch wenn wir gehen
 
wir sind so übrig

momente

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ja,
es war wohl gut.
die menschen hatten spaß und ich nach einigen anlaufnervositäten dann auch.
stolz bin ich, daß es der jungen generation gefallen hat.
das macht mich glücklich; es ist als kann ich doch kommunizieren, mich mitteilen und werde verstanden.
das hatte ich mir mein leben lang gewünscht.
das war es warum ich anfing zu schreiben.

ich bin immernoch heiser und ziemlich zufrieden, mich getraut zu haben.

funkel

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Sonntag, 28. September 2014
man darf
mich jetzt frau rentnerin nennen.
der antrag ist genehmigt worden.

ich bin sehr erleichtert und froh.

funkel

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Sonntag, 21. September 2014
ach. was für ein leben.
inmitten aller, vorwiegend guten, nachrichten aus meinem vergangen leben traf mich eine in einem nebensatz versteckte, wie eine ohrfeige die einem sofort tränen aus den augen haut.
mein ehemaliger schwiegerpapa ist gestorben.
der erste mensch auf diesem planeten, den ich papa nannte.
das zwar erst nach vielen jahren und kämpfen, dafür aus tiefstem herzen.
bis gestern hatte ich die hoffnung, die sehnsucht ihn wiederzusehen.
letztes jahr im winter fing ich an unruhig zu werden, dachte öfter an ihn, holte die 2,3 fotos die ich noch besitze hervor und im januar war er thema in meiner therapie; ich hatte angst davor, daß er sterben würde, ohne daß ich jemals wieder irgendwie kontakt zu ihm haben könnte.
nun, im januar ist er gestorben.

kennengelernt hatte ich ihn1991, in meiner küche sitzend, barcardy aus einem wasserglas schluckend und hitlers autobahnen lobend. noch unter dem eindruck der brennenden häuser türkischstämmiger landsleute ging ich in position und hielt dagegen. als ich dann meine jüdische vorfahren erwähnte - wurde er plötzlich still.
aus dieser stille heraus wurde ich in den nächsten jahren; zur hochzeit kamen meine schwiegereltern nicht; gesiezt und ignoriert.
mein exmann (a.) erzählte mir viel über seinen vater, über seine probleme mit ihm, aber auch aus dessen kindheit.
geboren im sudetenland, in einer armen bauerfamilie, durfte er nur 4 jahre, und das auch nur sporadisch, zur schule gehen und mußte tägliche mißhandlunger ertragen und die seiner mutter mit ansehen. einmal brach er im winter beim spielen auf einem zugefrorenen see ein und wurde vom vater des nachbarsjungen gerettet. zwischen dem und seinen vater bestand eine fehde und der mann legte das kind in hofeinfahrt und verschwand. der kleine alfred wurde fast zu tode geprügelt, weil er sich vom erzfeind des vaters hat retten lassen.
was für eine logik.
dann wurde der vater eingezogen und fiel kurze zeit später an einer der kriegsfronten.
die mutter mühte sich mit dem hof, aber es herrschte nicht mehr der hausdiktator und so ging es ihnen recht gut.
dann die vertreibung.
alfred war noch ein kind und konnte seine mutter nicht schützen; sie wurde mehrfach vergewaltigt und alle (es gab noch eine kleine schwester) auf der flucht immer wieder angegriffen und verprügelt.
sie wurden nach hessen in ein dorf gebracht, welches sie zutiefst mißtrauisch beäugte und behandelte. aussiedler waren nicht sehr willkommen.
er versuchte sich zu integrieren und wurde kumpel unter tage.
dann verliebte er sich in die schönste vom dorf und sie sich in ihn.
trotz aller widerstände der dörfler, heirateten die beiden. zuerst standesamtlich, um steuerliche vorteile zu erhalten die sonst nicht gewährt worden wären, danach kirchlich. doch, zum ersten kirchgang nach trauung kam es nicht, denn der pfarrer verwies sie vor der gemeinde des hauses, da sie in sünde lebten.
alfred hat nie wieder eine kirche betreten.
sie bauten ein haus, bekamen drei kinder und alfred prügelte ein zwei mal im jahr die mutter, aber erhob niemals, wirklich nicht ein einziges mal, die hand gegen seine kinder.
er trank regelmässig, aber nur wenn er absolut besoffen war, schlug er seine frau.
dann gab es ein grubenunglück und er lag fast 2 tage verschüttet unter tage. er hatte bleibende schäden, konnte nicht mehr weiterarbeiten und wurde frührentner.
damit kam er nicht gut zurecht, er fühlte sich minderwertig.
in sich trug einen enormen haß auf alles slawische, wählte aber (wie ich erst viel später erfuhr) immer die sozialdemokraten.
und eines tages präsentiert ihm sein erstgeborener solch eine schwiegertochter!
meine schwiegermutter arrangierte sich aber mit mir und wir besuchten sie regelmässig.
alfred blieb stur und redete kein wort mit mir; rief ich mal an, legte er wortlos den hörer nieder und holte seine frau.
dann gab es einige dokumentationen über die vertreibungen im tv und ich rief an, ließ über meine schwiegermutter ausrichten wann und wo sie sehen sind und fing an, mich intensiv damit zu beschäftigen. in unserer ehe war es bald ein tägliches thema, denn auch a. wollte seinen vater verstehen und wieder - oder überhaupt mal - frieden mit ihm haben.
ich schickte die ersten bücher darüber zu ihnen, bis mir bewußt wurde, daß alfred ja kaum lesen konnte.
so nahmen wir alles auf, was es darüber zu sehen gab und er nahm wahr, wie interessiert wir kinder an seinem schicksal waren.
ein weihnachten besuchten wir sie wieder und alfred stand, wie immer, die nacht über alleine in der garage und trank.
wir beredeten eine strategie und a. ging zu ihm, trank (ein wenig) mit und bat ihn, mal seine wenigen fotos zu zeigen und dazu was zu erzählen.
das tat alfred auch. gegen morgen kam a.sehr bewegt und berührt zu mir ins bett. soviele worte hatte er noch nie mit seinem vater gesprochen und schon garnicht über diese themen.
die feier am tag darauf verlief wie immer, aber als die gäste die tafel verliessen, orderte alfred 2 kümmel, gab mir ein glas und stieß mit mir an. ich verlor jede angst vor ihm und wußte, nun gehöre ich für ihn zur familie.
am nächsten tag mussten wir wieder nach berlin fahren. zum abschied nahm er mich in seine arme. er fing an zu weinen und drückte mich wortlos, lange und ziemlich fest.
ab da war ich annemariechen und er papa.
-
wie und was er über a.s neue, kasachische frau dachte, habe ich nicht erfahren.
ich habe ihn immer vermißt und viel an ihn gedacht.
da die stimmung gegen mich war; meine schwiegermutter verglich mich mit einer kuh, die, wenn sie nicht trächtig werden kann, ja auch zum schlachter muß; traute ich mich nicht dort anzurufen. ich erfuhr nur auf umwegen, wie es ihm so ging.
gestern dann, daß er tot ist.
-
lebwohl alfred.
wir haben es beide geschafft über unsere schatten zu springen.

mandelkern

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Sonntag, 31. August 2014
es wird
eine kleine, kurze und unaufgeregte lesung werden.
zusammen mit meinem freund macus kluge
gibt es neues aus den berlinischen leben, eventuell auch von mir einen persönlichen text.
stattfinden wird die lesung im naumann drei, in berlin schöneberg in der naumannstr.3, am 01.10. - die uhrzeit werde ich noch nachtragen um 19:00 uhr.
ja, an einem werktag, mitten in der woche, aber wir wollen kein großes publikum, wir wollen einige leser kennenlernen und ich möchte wissen, ob ich das überstehe/durchhalte/aushalte oder weglaufen werde, vielleicht vorab meine stimme verliere. ich werde ihr dann nachlaufen....

wieder mal ein erstes mal.
eines das mich aufrecht hält; ich bin in den fängen von massen an formularen der staatlichen unterstützung, sozialgeld oder hartz4, so genau weiß das noch keiner.
auf dem amt.
ich natürlich auch nicht.
ich bin ja die "kundin", eine nicht gern gesehene.
so lang wie die rente nicht bewilligt worden ist, muß ich da durch.

wie gesagt - die aufregung hält mich kerzengerade - ich versuche mich zu freuen.

funkel

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Sonntag, 24. August 2014
auf der straße 0 / loslösung (1969-1974)
wir zogen um.

mein bruder und ich sollten ein eigenes zimmer bekommen, auch hatte pa fertig studiert und wir konnten uns eine größere wohnung leisten.
ich hatte ihn in den letzten jahren kaum gesehen, er hatte schichtdienst und studierte nebenbei.
als schon älterer student war er inmitten der studentischen unruhen und umwälzungen an der uni, aber seinen fachbereich (physik/mathematik/meteorolgie) hat das nicht so sehr berührt. trotzdem war er wach und offen den forderungen der studenten gegenüber, aber er hatte eine familie zu ernähren und beteiligte sich daher nicht.
bei uns hieß es meist "psssscht, sei still, pa schläft/lernt!"
nun, ich war ja nur zu gerne draußen, habe aber in diesen jahren den kontakt zu ihm etwas verloren.
in der umgebung der alten wohnung konnte ich mich erholen; zuerst brauchte ich das nach dem kindergarten, später wegen der schule.
im kindergarten fiel ich aus meiner wolkenwelt hinein in das toben und lärmen, spielen und erzogen werden. alles das, was ich nicht kannte oder mochte.
die einschulung verfrachtete mich in die vorstufe der hölle, ich war 5 und mit 48 kindern in eine klasse gesteckt worden.
es gab kein entkommen, die erste zeit mußte ich mich oft übergeben und wurde nach hause geschickt. das brachte mir aber ärger mit ma ein und ich blieb doch lieber in der schule.
ich verstand diese kinder noch weniger, als die im kindergarten und litt sehr unter dem lärm in den pausen. jeden tag nach schulschluss bezog ich klassenkeile, manchmal durfte ich an der hand unserer klassenlehrerin bis zur ersten straßenecke laufen, dann ließen mich alle in ruhe. ich tat ihr wohl leid, sie war nett, aber interveniert hat sie in keiner form. ein einziges mal bat ich meine eltern um hilfe, aber sie lachten und nahmen mich nicht ernst.
immerhin wurde ich jetzt satt; ich klaute die ungegessenen schulbrote anderer kinder, bekam milch von den amis und auf dem schulweg gab es eine spezielle art von büschen, deren junge triebe ich mit wonne verschlang.
(als erwachsene erzählte ich meinem bruder davon und er war ganz verblüfft, da er genau diese triebe auch gegessen hatte!)
auch traute ich mich weiter und weiter von zuhause weg, erkundete
die gegend, vor allem die lebensmittelgeschäfte. ich stahl wie ein rabe, wurde jedoch oft erwischt und von der polizei nachhause gebracht. es gab ein gespräch mit meinen eltern, ein gespräch meiner eltern mit mir und langen stubenarrest als strafe.
ich mußte kilometerweit laufen, um noch unbekannterweise ein geschäft betreten zu können.

aus dieser komplizierten, aber doch vertrauten welt zogen wir in einen riesigen neubaukomplex, nach lankwitz.
der bau war nicht fertiggestellt und anfangs teilten sich die hausbewohner, pro haus eine toilette. die wände waren feucht und im ersten sommer haben uns schwärme von mücken gequält. wir balancierten auf brettern zu den häusern; regnete es, war alles voll mit schlamm und es quietschte beim laufen, man verlor auch schon mal einen schuh darin.
der ganze komplex war ein herrlicher abenteuerspielplatz für die kinder.
die kinder.
auf einmal lebte ich mitten unter ihnen. allein sein, das ging nicht mehr, irgendeines fand mich immer.
ich versuchte mir bei den gleichaltrigen abzugucken, wie sie miteinander spielten und ging dann zu den kleineren, um das zu nachzumachen.
die wollten mich aber bald nicht mehr um sich haben, denn ich spielte nur das spielen und sie merkten das.
so fanden mich bald alle komisch und von den gleichaltrigen bezog ich wie gewohnt prügel. in der schule hingegen hatte ich zwar probleme und musste oft die klasse wechseln, aber verhauen hat mich dort keiner mehr.
für mich waren die kinder und ihre familien interessante studienobjekte.

mit dem umzug wurde es auf einmal bunt, das graue schwere umfeld verschwand.
die 70er explodierten von beginn an in einem knallfarbenen konsumrausch, jedenfalls in den anderen familien. ich beobachtete was sie aßen, tranken, wie sie sich kleideten und was sie unternahmen. wackelpudding und rote grütze kannte ich zwar, aber so etwas wie tri-top, kaba-banane oder -himbeere, fertiggerichte und desserts, auch aus dosen!, getränke aus pulver, prickelnde bonbons, creme 12 oder stinkige fa-seife, deodorants die man von weitem roch, solche dinge erstaunten mich. es gab dunkelbraun gebrannte leute, die im tennisdress aus ihren autos stiegen, aber auch ärmliche familien, wie den russen mit seiner vietnamesischen frau und 4 kindern, bei denen ich reis aus einem reiskocher schnorrte. sie teilten immer ihr essen mit mir, reis pur ohne weitere zutaten; die frau goß eine fischsoße, die sonst keiner mochte, über ihre portion. sie lebten in kahlen räumen, ohne teppich, sofa oder anderen möbeln, nur betten und einen tisch mit stühlen besaßen sie. Im gegensatz dazu hatten die braungebrannten wohnungen mit durchmöblierten, teppichschweren räumen. überall flirrten muster, auf den tapeten, vorhängen, tischdecken und auf den lampen. fotos, bilder, kalender und pinnwände -
mir schwirrten die sinne.

bei meinen eltern war es ein mittelding davon. anfangs noch leer und hallend, zogen langsam und gemächlich möbel, bilder, lampen und teppiche bei uns ein. zu meinem bedauern gab es nie muster, nirgends, alles war ton in ton gehalten. und es gab auch keine fertignahrung oder exotische süßspeisen.

war mir das verhalten der kinder untereinander schon ein rätsel, so konnte ich mich nicht sattsehen am familienleben der anderen. da ich mich durch die klassiker der literatur durchschmökerte, wurde mir immer mehr bewusst, wie anders ich war, wie anders unser familienleben war. je älter ich wurde, desto dichter und voller wurde die zeit; mit eindrücken und erlebtem, mit gedanken und gefühlen. als kleines kind waren die tage gleichförmiger, ich lebte mehr im im augenblick. nun vergingen sie mal schnell, mal schleichend und ich lernte die angst vor dem nächsten tag kennen. ich bekam meine erste depression und wusste durch meine lektüre, was zu tun war. ich aß goldregensamen, mir wurde elendig übel und keiner bemerkte es.
ich kam aufs gymnasium und hatte einen gewaltigen wachstumsschub. auf einmal sah ich aus wie 16, bekam meine erste blutung und das mit knapp 11 jahren. das ging so rasant bei mir, daß ich nicht hinterkam, innerlich. andauernd wollten mir die jungens, auch einige mädchen, unter den pulli fassen, aber reden wollten sie nichts. ich ließ sie, nein-sagen hatte ich nicht gelernt, und freute mich, ich naives ding, daß jemand überhaupt etwas von mir wollte.

im gegensatz zu den anderen familien fuhren wir nicht zusammen in die ferien, ich wurde verschickt. das kannte ich seit ich klein war, trotzdem war es immer eine tortur, denn ich war wieder mal allein unter vielen fremden. als ich nun so frühreif versendet wurde, lernte ich an der nordsee eine dänische fußballmannschaft kennen. sie wohnten im camp neben dem unseren und da ich mit den kindern bei mir nur schwierigkeiten hatte, sagte ich dort mal hallo. einer gefiel mir sehr gut und ich ihm. wir sprachen englisch miteinander, was ich fließend beherrschte, da ma und pa es dauernd zuhause sprachen.
er verabredete sich mit mir zu einem nachtspaziergang und so liefen wir im dunklem durch die dünen. in einer der senken waren 2 menschen irgendwie miteinander lautstark beschäftigt und er lachte. da er lachte, lachte ich auch....wir machten rast, er fing an mich zu küssen. dafür daß es mein erstes küssen war, war es wundervoll. mir wurde ziemlich warm und er berührte mich am ganzen körper. komischwerweise gefiel mir das. dann fragte er mich nach medikamenten und ich verstand ihn nicht. the pill - the pill! wiederholte er. dann fragte er mich, wie alt ich sei. dann brachte er mich sofort zurück ins camp. und ich war wirklich sauer, weil es hatte doch versprochen ziemlich interessant zu werden.
ich hatte einen echten gentlenman erwischt, er hätte die situation auch anders nutzen können, das weiß ich heute.
so verwirrend erging es mir am anfang der 70er jahre. ich war ein seltsames kind, außen mit dem hintern und brüsten einer frau, intern belesen und altklug, aber absolut naiv.
aufgefangen wurde ich von den mitschülerinnen meiner gymnasialklasse. eine clique nahm mich unter ihre fittiche. sie hatten alle blonde lange haare, trugen schlaghosen und clogs. ich denke, sie hatten mitgefühl, da ich schlecht und schräg gekleidet war, immer hunger hatte, von nichts (nichts war: musik, männer, mode) eine ahnung hatte. ich bekam klamotten, eine stones-lp und wurde in einiges miteinbezogen. ich durfte sie besuchen, wurde von ihnen ernstgenommen, ohne daß es nach einigen wochen, wie bei meinen sonstigen erfahrungen, ins gegenteil umschlug.

am 11.09.1973 wurde in chile geputscht und damit drang die "große" außenwelt endgültig in mein bewusstsein. an diesem tag bin ich politisch erwacht. es gab etliche solidarveranstaltungen in lankwitz und ich mischte dort mit, obwohl ich erst 12 jahre alt war. dabei kam meine altklugheit gelegen und ich fiel nicht auf. mich regte die ungerechtigkeit auf und es ging um die gefühle von anderen, damit konnte ich umgehen.
im gymnasium fühlte ich mich wohl, hatte mittlere bis gute leistungen , aber zuhause gab es immer mehr auseinandersetzungen. wie schon in der grundschule haute ich ab, verschwand über nacht und als ich einen neuen klassenlehrer bekam wurde es kritisch.
dieser mensch führte mich regelmässig vor und machte es mir schwer weiter gute leistungen zu erbringen. er mobbte mich, bis er es schaffte, daß ich der schule verwiesen wurde. meine eltern und das lehrerkollegium glaubten ihm, natürlich.
(später kam heraus, daß er das an all seinen schulen so machte: er suchte sich den sensibelsten schüler und mobbte drauflos, bis er ihn von der schule geschafft hatte. ein elternpaar zeigte ihn an und kam tatsächlich vor gericht, wurde seines beamtenstatus enthoben und der schule verwiesen. er mußte dem klagenden schüler schmerzensgeld zahlen und durfte nicht mehr als lehrer arbeiten.)
1974 kam ich auf die schulfarm insel scharfenberg, die einzige schule in berlin, die ich noch besuchen durfte.

in berlin

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Samstag, 9. August 2014
auf der straße 0 / die ersten jahre (1961-1969)
1960, mit mir schwanger fuhr meine ma eine lange und anstrengende route aus botsuana/südafrika über den ozean nach berlin zurück. damals war das nur auf einem containerschiff möglich, ohne jeglichen komfort, und so bin ich ein ziemlich seefestes wesen geworden.

geboren wurde ich im noch freien berlin, in kreuzberg. 7 monate später wurde die mauer gebaut.
dicht gedrängt lebte ich die ersten monate in einer 2-zimmerwohnung mit wohnküche in der neukölner innstraße; zusammen mit den eltern und 4 geschwistern von ma, meinem bruder und vater.
ich schlief im wäschekorb neben dem warmen kohleofen; kam meine tante aus der nachtschicht, nahm sie mich mit auf ihren schlafplatz und hielt mich eine weile in ihren armen. sie war es auch die bemerkte, daß ich schwer erkrankt war, daher kam ich in die kinderklinik-baracken in der königin-elisabeth-str. in charlottenburg.
ja, ich zog von beginn an durch die stadt, meiner meinung nach habe ich es in den über 50 lebensjahren zum mindestens 1x wohnen in jedem der west-berliner bezirke gebracht.
nach der isolation und zwangsfütterung in der klinik; die ärzte dachten an etwas exotisches, das ich aus afrika mitgebracht haben könnte und reagierten panisch; kam ich nach hause und das bedeutete in eine eigene wohnung, im gardeschützenweg, berlin steglitz-lichterfelde.
sir war in einem wiederaufbauhaus, auf einen alten keller gesetzt, an dessen wänden noch luftschutzhinweise gemalt waren und mit schwerfallenden eisentüren, die die hauskeller voneinander trennten. zum müll raustragen, meiner haushaltlichen aufgabe, mußte ich ihn durchqueren und lernte rasant schnell und gut pfeifen.
ich habe heute noch träume die in ihm stattfinden.

laufen lernen war für mich eine leichte kür, ich wollte raus und immer nur raus.
anfangs nur in den verborgenen hof, der mit klopfstange neben den mülltonnen (ideal für einzelgummitwist) garagen und asphaltfläche zum einparken, aber auch mit birnbäumen, vogelbeeren, himbeersträuchern rund um eine große wiese ausgestattet war.
einen buddelkasten mit eisernem raketengerüst gab es und daneben meinen lieblingsplatz, die alte birke dicht an einem fliederbusch, in dessem inneren ein baumstumpf saß. die birke war ideal zum hochklettern und ausguck absolvieren, der busch zum verbergen. niemand ahnte, daß dort jemand hockte und aus einzelnen fliederblüten den nektar saugte.
das schönste war, es gab keine anderen kinder, nur 3 sehr viel ältere, die schon zur schule gingen. ich hatte alles für mich allein, den angrenzenden kindergarten beachtete ich nicht, das war ein anderes universum. so war ich sehr glücklich und mit den ansteigenden lebensjahren wagte ich mich immer weiter aus der deckung.

als erstes entdeckte ich die ruine, direkt neben dem hof. sie war zwar eingezäunt und trotz des absolutem verbots dort hineinzugehen, quetsche ich mich durch den draht, bestaunte die jungen bäume, die sich inmitten halber wände breitmachen, an einer noch hohen außenwand rankte efeu und ich rätselte sehr lange, warum und wozu es dort leere fensterhöhlen gibt. bis ich erkennen konnte, daß das mal ein 3stöckiges, aber recht kleines haus gewesen war, von dem noch 1 ganze und eine halbe aussenwand stehen, innen aber nur noch das erdgeschoß mit kniehohen mauerresten existierte.
in einer der wände war ein teil einer tür erkennbar und ich durchsuchte akribisch den schutt, bis ich einen großen schlüssel fand. den es heute noch gibt....

ich wurde nicht entdeckt, die strassen, das viertel, die stadt ist ruhig.
in den ersten jahren nach dem mauerbau fuhren wenig autos, kaum lastwagen und die menschen waren angespannt, still.
die automobile sind einzeln wahrnehmbar und wenn ein fuhrwerk naht, hört man schon lange, bevor man es sieht, das klappern der hufen. ich kann bald unterscheiden zwischen den kaltblütern der bierkutscher, den der bolle-milchwagen und den anderen pferden der trauergespanne und hochzeitskutschen.
fasziniert bin ich am meisten von den bierkutschern, ihre pferde kommen mir riesig vor und sie haben neben den augen einen interessanten schwarzen sichtschutz, auf ihrem rücken liegen lederne decken, ihr schnauben ist feucht und laut.
kein pferdeapfel bleibt lange auf dem kopfsteinpflaster, sofort ist jemand mit kleiner schippe und zeitungspapiertüte da und sammelt sie ein. ein guter dünger für den garten, lerne ich.
die hochzeitskutschen wurde von schlanken, weißen pferden gezogen, denen eine schwarze decke umgelegt wurde, wenn sie vor das gestell für einen sargtransport gespannt wurden.

ab und zu knatterte ein motorrad, die straßenbahn klingelte. ihr betrieb wurde ´65 eingestellt und es wurde noch ruhiger, doch zu sehen hatte ich noch genug.
meist balancierte ich am rinnstein entlang, roch zigarrenrauch und wenn ich mich umdrehte hing daran ein mann mit hund. es gab so viele männer mit hund und alle hatten etwas besonderes. seit ich unserem hauswart ins gesicht fassen durfte um seine tiefen krater zu berühren, mir dabei erklärt wurde, daß er als flieger abgeschossen worden ist und die narben dabei enstanden, war ich am sammeln dieser zeichen des krieges.
mir kam es so vor, als wären die strassen voll mit dem rauch von herrchen und hund, frauen verblaßten mir schnell denn sie rochen nicht und führten meist kleine pudel, möpse oder spitze.
aber die männer, die hatten buschig schwere schäferhunde, solche mit noch hohen rücken und vor lauter fell fast unförmig; chow-chows mit blauer zunge, schwarze königspudel, airedaleterrier, riesenschnautzer, seidig glänzende langhaardackel - alles arten die man heute kaum noch sieht.
dazu der stumpengeruch und zum sammeln die verletzungen aller art. ich erinnere mich an den mann mit den auf einer seite zerdrückten kopf, an etliche einarmige und die einbeinigen mit holzkrücken unter den achseln.
augenklappen waren recht häufig und einer rollte beinlos auf einem gerät, das aussah wie ein abgesägter stuhl ohne lehne, dafür mit rädern. die besser betuchten hatten rollstühle, die sie mit schwingenden weit ausholenden armen antrieben. die folgen des krieges waren sehr sichtbar und blieben es länger als sonstwo, da durch den mauerbau ein stillstand in der stadt herrschte.
bis 1967 gab es kaum bis gar keinen güterverkehr für west-berlin, bis das wieder lief mußte improvisiert werden und kleingärtner waren äusserst beliebt. ruinen blieben stehen, wiederaufbau oder neubauten konnten wenn, dann nur aus dem vorhandenen schutt errichtet werden. noch bis in die 90er jahre konnte man die maschinengewehreinschläge in den häuserfronten erkennen, z.b. in der gallwitzallee in lankwitz.
die menschen waren durch kennedys besuch beruhigt, aber sie wußten nicht was wir heute wissen, sie hatten angst wie und ob es überhaupt weiterginge.
extrem laut wurde es manchmal, wenn z.b. ein hoher besuch, eine wahl oder ein anderes öffentliches ereignis anstand, dann flogen die die russen mit ihren migs dicht über die dächer oder so schnell daß sie schallmauer durchbrachen.
die alte mutter meiner hauswartsleute fing dann an zu jammern und zu klagen, manches mal sogar an zu schreien, sie hatte als flüchtling todesangst vor den russen. mich steckte die allgemeine angst an und wenn dann die luftschutzsirenen losheulten, man nur noch geduckte hastende rücken auf der straße sah, alle mit ernsten mienen, dann kann das anstecken. angst, meine muttermilch.
nahrungsmittel waren knapp, angeboten wurde nur regionales und saisonales, es gab brot, milch,quark und käse, kohl und rüben, kartoffeln, äpfel, birnen und kirschen - alles andere war unerschwinglicher luxus. so um ´68 herum durften die laster wieder durch den transit rollen und ich erinnere mich an die szene, daß jemand aus unserem haus weinend einen dicken blumenstrauß vor sich hertrug, es konnten wieder schnittblumen gekauft werden.
ma machte öfter aus geschenkten fallobstäpfeln apfelmus und noch bis ´67 bekam ich ich in der grundschule von dem amis gespendete milch. um die wenigen schokoflaschen dabei gab es regelmässig keilereien.
der kontakt mit den soldaten war alltag, wir hatten unseren schwimmunterricht in der nahen kaserne und regelmässig rollten die panzer durch die straßen. pa fand arbeit auf dem flughafen tempelhof; anfangs, bevor sie paranoid wurden, durfte er mich manchmal mit hin nehmen und ich erinnere mich genau an den netten soldaten der mich hochhob, in den lastwagen stellte und ich konnte mir so frische weintrauben aus einem sack nehmen. meine ersten.... sie schenkten mir vanilleeis in rechteckkartons und immer wieder hoben die uniformierten mich an, schleuderten mich wie einen kreisel und freuten sich mit mir. blutjunge gis, damals kamen sie mir vor wie ein wald der laufen kann, so groß, manch einer wunderbar dunkel und alle so stark.
glück bestand nur aus kurzen sequenzen, das lernte ich schnell. die jahre bis zu den ersten abkommen, die eine regelmässige versorgung des westteils der stadt ermöglichten, waren voll mit schreckmomenten, mit großen kundgebungen, auf denen alle herzen gleichartig zitterten, mit kerzenlicht in allen fenstern und auch der schmerz der trennung einzelner familien durch die mauer war spürbar.
die situation in der wir lebten, die ständig neu definiert wurde und die sich von einem tag zum anderen brachial ändern konnte, schwang stets mit, war immer dabei, egal was man tat, egal wo und mit wem man saß, egal worüber man redete. sie war der schwankende boden auf dem jeder westberliner stand.
zu beginn wurde noch nicht überall eine mauer gebaut, es gab gewisse orte die mit stacheldraht begrenzt und bewacht wurden.
einer dieser orte war ein feld am stadtrand, in frohnau. dort wohnten die eltern von pa und mein bruder ich spielten in diesem, wir aßen die reifen weizenkörner und bewegten uns mehr und mehr richtung grenze. natürlich, wir waren beide kleine kinder, war uns das nicht bewußt, ja, wir sahen den draht erst als wir davor standen und im gleichem augenblick von den grenzern angerufen wurden. die waren nicht besonders agressiv, jagten uns aber einen gewaltigen schrecken ein. sie waren sichtbar bewaffnet und in uniform, das nun verstanden wir. es ist nichts weiter passiert, doch werde ich das nie vergessen, die soldaten hätten auch anders reagieren können. als wir zur familie zurückkehrten hat uns übrigends niemand so recht geglaubt.
so lebte ich als kleines ding in einer für mich sepiabraun getönten umgebung, die straßen voll mit versehrten aus den 2 kriegen, durchtränkt mit einer stimmung die den tag lobt, an dem nichts weiter passiert und in angespannter erwartung ist ob des nächsten, mit dem rasseln mich schützender panzer, dem knallen der migs, in einer hand ´ne flasche amimilch in der anderen ´ne murmel.
irgendwie kind, irgendwie nie richtig kind gewesen.

in berlin

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Sonntag, 3. August 2014
sehr schön.
der iltisartige geruch schliddert wenige zentimeter vor mir über das parkett, den kater freut es, er weiß genau wann ich mich bewege und wohin, als würde er das nicht sonst auch und ich fühle kleine rhomben unter der haut, die wandern, sich schlängeln um einen sammelplatz zu finden; (vielleicht sollte ich sie in den magen schicken und daraus dann eine wut entwickeln?) aber sie bleiben dicht unter der, die mich hält, kein funken springt kein glühen entsteht, so bin ich nicht gemacht, ich verwerfe diese idee, wie immer, jede rhombe ein datum, aus purer fabulierlust muß ich sie "nappo" nennen, nach der herrlich zähen süßigkeit aus kinderzeiten und schon meldet sich dann doch der magen, sagt "die küche lebt!" und "du doch auch?", stößt sich an meiner ignoranz, so sehr daß ich ich um mich schlagen möchte mit den farben und den worten und dem was mein leben ist.

mehr habe ich nicht und ich weiß, es sehr viel.

gemurmelt

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Samstag, 2. August 2014
2000!
ach.
schön.

(ich fühle mich, als hätte ich wirklich geburtstag....)

funkel

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Freitag, 1. August 2014
mein heutiger wunsch:
könnte ich doch darüber lachen, daß ich immer leiser wurde je tiefer er mit seinen fragen in meinen traumata wühlte und er, extrem schwerhörig, immer aggressiver verlangte ich solle lauter sprechen.
da saß ich, die akustikerin, die nicht mehr arbeiten kann vor einem, der nicht mehr arbeiten sollte (jedenfalls nicht ohne hörgeräte!) und brüllte.
jedenfalls partiell.
mein begleiter saß im wartezimmer, nach 20min kam schon der nächste zu begutachtende mensch und die beiden schoben die tür zu.
nach 38 minuten war er mit mir fertig und ich war mehr als das.
38 minuten um durch mein leben zu hacken zu pflügen zu versuchen eckpunkte aufzubrechen -
immer wieder wurde ich leise und mir war als sein ich aus eis.
ich weiß nicht wie der mann aussah, ich schaute nur auf meine hände im schoß, die sich an meine tasche klammerten, bemühte mich nicht zu einer kugel zusammenzurollen, denn ich wußte, ich durfte hier nicht verstummen, durfte mich nicht schützend verstecken.

zum einen denke ich, daß der gutachter kein böser mensch ist, er ist ein alter mann, schwerhörig und noch als nervenarzt vor vielen jahrzehnten ausgebildet worden. vor sehr vielen.
er hatte wenig ahnung/wissen was trauma und autismus betreffen und er konnte keinen zusammenhang mit den daraus folgenden auswirkungen für mein leben herstellen.
wir kamen oft an seine grenzen; "warum haben sie denn bitte seit 1997 bis jetzt eine therapie? wer zahlt denn das? das zahlt doch keiner!" (das betraf den unfall....)
zum anderen aber stellte er behauptungen auf, die zu klären viel der kostbaren zeit raubte; wie zum beispiel "wie kommen sie darauf, daß sie autistin sind? das steht hier nirgends, nicht im gutachten von dr.xx - "
ich: "haben sie das gutachten nicht -" ich zeige darauf - "hier vorliegen? bitte schauen sie, im 1. absatz, 2er satz..."
er schaut und murmelt "ach da steht ja sowas..."
seine nächste frage war, ob ich denn als kind symptome davon gehabt hätte; als ich begann welche aufzuzählen, lachte er und meinte, das wären keine. (ich fing an mit dem lesen- + und schreiben können mit 3 oder 4 lebensjahren) und schloß gleich mit der frage nach meiner sexualität an.
ich versuchte vorsichtig auszudrücken, welches meine ersten, äusserst unschönen erfahrungen waren und er fragte darauf hin nur, ob ich mich in meiner familie wohlgefühlt hätte.
ich brach in tränen aus.
er fragte nach stimmen in meinem kopf.
ich riß mich zusammen.
nächste frage.
nach der zeit meiner ehe und warum ich derweil so wenig gearbeitet hätte.
meine antwort, daß wir, per künstlicher befruchtung, versucht hatten schwanger zu werden sei der eine und die pflege meiner omi der andere grund.
ob es eine glückliche ehe gewesen sei und ob mein mann bei dem unfall gestorben wäre.
ich riß mich und riß mich und riß mich.
nächste frage, ob der mann auch gestorben wäre.
ich: "nein", setzte aber nach "welcher mann?"
er: "na der geisterfahrer -
ich: "das war eine sie"
er: "ist er auch gestorben?"
ich: "das war eine frau!!"
etc. -
ganz zum schluß kam seine frage: "und, haben sie kinder?"
ich zerriss.

nach einer zerknirschten nacht voll mit denken und grübeln, ist mir klar: er hat wohl vieles (akustisch) nicht verstanden.
er hatte sich überhaupt nicht vorbereitet, nicht ein verdammtes wort vorher gelesen.
aus den geplanten 20 minuten pro begutachtung wurden 38, die mir wie 38 stunden vorkamen.
zur verabschiedung bestand er darauf meine hand zu drücken, ein sehr aussagekräftige handlung der intoleranz.

ich bin so froh darüber, daß ich im gegensatz zu meinem üblichen "da muß ich allein durch!" einen freund als begleiter bei mir hatte. bei einem café, vielen zigaretten und weiteren tränen, half er mir, wieder den boden unter meinen füßen spüren zu können.

ich werde einige zeit benötigen, mich wieder zusammenzufügen und das zu verkraften.
ich bin ziemlich verwirrt, sehr verletzt und vielleicht merkt man das auch diesem text an.
aber ich habe morgen auch einen grund für ein kleines, bescheidenes jubilieren.
morgen wird dieses blog 2000 tage alt.
und ich habe bisher keines meiner blogs so lange am leben gelassen.....

myself in many words

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danke sid. ich brauche noch einige zeit....
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vielen dank.
vielen dank.
by ach annemarie (2024.06.16, 09:42)

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